Erst einsame Beton-Ödnis, dann Milaneo-Spektakel: Familie Hagedorn lebt im Europaviertel. Eine Geschichte über den samstäglichen Einfall ganzer Horden, auswärtige Kennzeichen und eine fehlende Kita.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Vorurteile haben die unangenehme Eigenschaft, oft widerlegt zu werden. Ist man sich etwa beim Anblick der Pariser Höfe am Mailänder Platz im – wie könnte es anders sein – Stuttgarter Europaviertel sicher, dass in diesem Wohnblock nur Bonzen wohnen, die mindestens den Untergang des alten Stuttgarts bedeuten, spaziert einem munter die bezaubernde Kleinfamilie Hagedorn vor die Füße.

 

Diese zufällige Begegnung passiert im Sommer beim Freikonzert auf dem Pariser Platz. Es handelt sich um eine Weltpremiere: Erstmals findet echtes Leben auf diesem bis dahin so trostlosen Beton-Refugium der Banker und Sparkassenazubis statt. Niklas Hagedorn, seine Frau Verena und die kleine Marie-Luisa sind gerade aus der Elternzeit zurück. Sie sind mit dem Camper wochenlang durch Frankreich getourt. Da passt die Picknick- und Festivalatmosphäre vor ihrer Haustüre ganz gut zum persönlichen Wohlbefinden. „So belebt war es noch nie, seit wir hier wohnen“, sagt Niklas Hagedorn.

Dauer-Shoppingwahn vor der Haustüre

Wenige Monate später ist das Europaviertel auf einmal dauerbelebt. Diese Besucher des neuen Stuttgarter Stadtviertels verbreiten jedoch keine Festivalatmosphäre. Sie sind Anhänger der angesagten Glaubensrichtung Konsumismus. Gemeinsames Erkennungsmerkmal: die braune Primark-Tüte. Seit das Milaneo Anfang Oktober eröffnet hat, ist für Familie Hagedorn nichts mehr so wie es einmal war. Statt gepflegter Beton-Ödnis haben sie nun Dauer-Shopping-Wahn vor der Haustüre.

Diese neue Situation wird innerfamiliär unterschiedlich bewertet. Verena Hagedorn fällt ein harsches Milaneo-Urteil: „Primark betrete ich aus Prinzip nicht, in diesen polnischen H&M muss ich auch nicht. Ich finde es sehr schade, wir haben so eine schöne Einkaufsstraße und dann wird da so ein Teil gebaut mit Läden, die kein Mensch braucht“, sagt die 32-Jährige. Niklas Hagedorn sieht das Shopping-Ufo vor der eigenen Haustüre pragmatischer: „Für die Nahversorgung ist es nicht so schlecht, die Reinigung oder die Gastronomie nutzen wir schon manchmal“, sagt der 33-Jährige. Die elf Monate alte Marie-Luisa scheint dem Milaneo noch indifferent gegenüberzustehen. Viel interessanter ist ein Keks auf dem Tisch, der während des Interviews in Babylauten angegurrt wird.

Rund um das Milaneo fehlen jede Menge Parkplätze

Als die Hagedorns vor zwei Jahren ihre Wohnung in den Pariser Höfen gekauft haben, haben sie den Makler gefragt, ob auch Familien mit Kindern einziehen. Der Makler wusste nur von einem Töchterchen in den 240 Wohnungen. Mittlerweile toben durch 50 Wohnungen kleine Zwerge, schätzt Verena Hagedorn. Der hübsche Innenhof, den man dem wuchtigen Wohnklotz von außen gar nicht zutraut, sei im Sommer Stuttgarts größte Bobbycar-Test-strecke gewesen. Vielleicht laden die Bewohner im nächsten Sommer ja einmal Finanzbürgermeister Michael Föll zum Grillen ein, um darüber zu diskutieren, ob der Verzicht auf eine Kita im Europaviertel im Tausch gegen eine halbe Million Euro von der Bahn wirklich so eine gute Idee war.

Was man neben einer Kita rund um das Milaneo ganz gut brauchen könnte, sind Stellplätze: „Da fehlen mindestens 500 Parkplätze, das hat man meiner Meinung nach einfach in Kauf genommen“, kritisiert Niklas Hagedorn. Vor allem an den Wochenenden geht die Familie mittlerweile einem neuen Hobby nach: Nummernschilder raten. „Wir haben hier extrem viele auswärtige Kennzeichen, die Leute kommen aus Speyer, Karlsruhe, Ulm und Heilbronn oder sogar aus der Schweiz hierher“, hat Verena Hagedorn beobachtet.

Die Nähe zum Bahnhof war der Grund für die Wohnung

Es sei ein Spektakel, wenn am Samstagmorgen die Horden einfallen würden. „Kürzlich haben wir einer Frau dabei zugesehen, wie sie ihre Primark-Tüten einfach in den Kofferraum ihres SUVs geleert hat“, sagt Verena Hagedorn. Es folgt eine Diskussion über die Wegwerfgesellschaft. „Vor kurzem haben wir die Schränke aussortiert, um Kleider zu spenden. Es ist schlimm, was da an wenig getragenen Stücken zum Vorschein kommt“, sagt Verena Hagedorn, die als Ärztin an einem Stuttgarter Krankenhaus arbeitet.

Niklas Hagedorn ist als Notar in Bruchsal tätig. Das war auch der Grund, wieso sich die Hagedorns für eine Wohnung im Europaviertel entschieden haben. „Mit dem Zug bin ich in einer knappen halben Stunde in Bruchsal. Der Bahnhof ist so nah, dass wir im Sommer bei geöffnetem Fenster die Durchsagen von den Bahngleisen im Schlafzimmer hören“, sagt Hagedorn. Außerdem sei die Wohnung kaum teurer als etwa im Westen gewesen.

Der Ausflug nach Paris als Fluchtoption

Über den neuen Lärm, der mittlerweile im Preis inbegriffen ist, wollen sich die Hagedorns nicht allzu sehr beschweren. „Wenn man in der Stadt wohnt, ist das Teil des Deals. Die Entwicklung dieses Viertels hautnah miterleben zu dürfen und dabei mitten in der Stadt zu leben, ist ein Geschenk“, sagt Niklas Hagedorn. Außerdem sei der Pariser Platz auch eine extrem hübsche Postadresse, die sich immer gut anhöre. Kriegt man angesichts einer solchen Anschrift nicht Sehnsucht, einmal die Woche mit dem TGV nach Paris zu brausen? „Das haben wir uns noch aufgespart, wir haben es aber ganz fest auf dem Schirm“, so Niklas Hagedorn. „Wenn der TGV an einem vorbeifährt, wird der Blick schon sehnsüchtig“, sagt Verena Hagedorn. Paris statt Primark, TGV statt SUV: Es gibt schlechtere Optionen, dem Milaneo-Trubel wenigstens zeitweise zu entrinnen.