Paul Bonatz äußerte sich 1919 in der Daimler-Werkzeitung zum Thema "Wie soll ein moderner Bahnhof aussehen?" und erläutert seinen Entwurf.

Stuttgart - Der Chef der Deutschen Bahn, Rüdiger Grube, hat sich wenig erfreut gezeigt, als die Erben des Architekten Paul Bonatz jüngst mit einer Urheberrechtsklage drohten, falls die Seitenflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs abgerissen werden sollten. Der Architekt des Bauwerks, Paul Bonatz, hat wiederum einst in einer Publikation des Konzerns, für den Grube zuvor tätig war, ausführlich seinen Entwurf erläutert. In der Daimler-Werkzeitung vom 18. September 1919 äußert sich Bonatz zum Thema "Wie soll ein moderner Bahnhof aussehen?"

Vielleicht war es der Umstand, dass der Architekt für ein Laienpublikum schrieb, vielleicht auch die Tatsache, dass die Bauarbeiten, im Ersten Weltkrieg begonnen, durch den Krieg zum Stillstand gekommen waren. Jedenfalls beginnt er seinen Aufsatz mit dieser grundlegenden Frage. "Wie soll ein moderner Bahnhof aussehen?" Er fährt fort: "Die Antwort auf diese Frage wäre leicht zu geben, wenn es sich nur um den eigentlichen Bahn-,hof', die glasbedeckten Einfahrtshallen, handelte. Sie würde lauten: eiserne Hallen in guter Linienführung, größte Sachlichkeit, ohne störendes Beiwerk." Doch, so Bonatz weiter: "Die Einfahrtshallen treten aber niemals für sich in Erscheinung. Sie sind immer mehr oder weniger stark - beim Kopfbahnhof von drei Seiten her - mit massiven Bauten untergeordneter Zweckbestimmung umgeben." Dieses Argument führt der Architekt über zwei Seiten weiter aus. Wenn etwa - wie bei den Hauptbahnhöfen von Köln oder Hamburg - eine hohe, gewölbte Bahnhofshalle auch nach außen hin in Erscheinung träte, könnten sich die Steinbauten auch wegducken. In Stuttgart müssten sie jedoch für sich sprechen.

Bonatz: Ein Bahnhof ist kein Theater


Bonatz, oft vorschnell als konservativ getadelt, argumentiert einerseits funktionalistisch: "Ein Bahnhof ist ein halbtechnischer Bau. In Zweck und Inhalt ist er von all den Bauten, an denen sich die Formen früherer Stile entwickelt haben, so verschieden, dass ein Übernehmen alter Stilformen sich von selbst verbietet." Ein Bahnhof sei eben kein Theater, auch keine Kirche oder ein Wohnhaus: "Der Betrieb im Bahnhof ist ein harter, schneller, unerbittlicher, kein gemütvoller. Alles ist Ordnung und Organisation. Wohl ist Rhythmus darin, doch nichts Weiches, Spielerisches, nur Strenges und Unausweichliches."

Andererseits liegt für den Architekten - auch wenn er konzediert, dies sei nicht mit wissenschaftlicher Exaktheit beweisbar - eine gelungene Lösung in der Balance der Massen. "Der Anschluss der Endflügel der Massivbauten an die Stirnwand der Einfahrtshallen ist der kritische Punkt, der bei den meisten Bahnhöfen unbefriedigend gelöst ist. Für das Auge hat der flankierende Steinbau die Funktion des Widerlagers. Er muss deshalb kräftig und geschlossen sein." Ausdrücklich schließt er in diese Überlegung auch die Seitenflügel mit ein und illustriert dies mit einer ganzseitigen Zeichnung, die man herausnehmen konnte. Sie zeigt nicht etwa die Hauptfassade zur Stadt, sondern den langen Südflügel mit seinen drei vorspringenden Risaliten und dem Turm.

Bahnhof als "Spiegel seiner Zeit"


"Der lange Seitenflügel, der in der Zeichnung dargestellt ist, wird durch drei Vorsprünge in gleicher Gesimshöhe gegliedert", schreibt Bonatz, um sodann auf das funktionale Argument zurückzukommen: "Auch diese drei Vorsprünge sind nichts Willkürliches. Sie sind jeweils der Kopf eines auf sie zuführenden Quertunnels für den Dienst der Post, der Station und des Expressguts." Aus dieser repetitiven Ordnung ragen nur zwei Elemente heraus: der Turm, am Schnittpunkt der Achsen von Königstraße und Bahnsteighalle, und die Eingangshalle, "der große Mund des ganzen württembergischen Bahnsystems".

Paul Bonatz schließt seinen Aufsatz mit der Bemerkung, ein Bauwerk solle nicht nur "Ausdruck seines Inhalts" sein, sondern auch "Spiegel seiner Zeit". Ein "barock überladener Bau wie der Frankfurter Bahnhof" erscheint ihm in Kriegs- und Krisenjahren unvorstellbar.

"Wenn das, was wir heute bauen - unsere Mittel reichen kaum dazu aus, in diesem und dem nächsten Jahre einige dürftige Kleinwohnungen zu errichten -, die Not und Verarmung der Zeit wiedergibt, so ist der in der ersten Kriegshälfte erbaute Bahnhofsteil ein Zeugnis dafür, wie in den Jahren 1915 und 1916 alle Kräfte angespannt waren."

Bonatz war ein zurückhaltender Mensch. Der russische Schriftsteller Ilja Ehrenburg hat den Stuttgarter Bahnhof nach dessen Teil-Inbetriebnahme im Jahr 1922 ganz anders beschrieben. "Dutzende blinkender Bahnsteige, Läden, Restaurants, Cafés, Zeitungen, Blumen, Zifferblätter, ganze Reihen von Schaltern" erinnerten ihn an den "Tempel eines unbekannten Kultes". In der durchdachten, wohlorganisierten Ordnung zugleich des Vorortverkehrs und der Fernverkehrszüge von Paris bis nach Konstantinopel sah er "eine religiöse Einstellung zum Fahrplan" am Werk.


Paul Bonatz und die Werkzeitung von Daimler


Architektur
Teile des alten Bahnhofs sind heute noch im Metropol-Kino in der Büchsenstraße erhalten. 1911 gewannen Paul Bonatz und Eugen Scholer den Wettbewerb für den heutigen Hauptbahnhof. Trotz Kriegsausbruch begannen 1914 die Bauarbeiten, kamen jedoch zwei Jahre später zum Erliegen. 1922 ging der erste Teilabschnitt in Betrieb. Die endgültige Fertigstellung zog sich noch bis 1928 hin.

Werkzeitung
Ganze vierzehn Ausgaben der Daimler-Mitarbeiterzeitung sind zwischen Juni 1919 und August 1920 erschienen. Die Werkzeitung verstand sich als Versuch des Vorstandsmitglieds Paul Riebensahm und seines Redakteurs Eugen Rosenstock-Huessy, in der Krisensituation nach dem Krieg mit einen kulturellen, lehrreichen und unterhaltsamen Angebot zu einer "gemeinsamen Sprache" zu finden und den Betriebsfrieden wiederherzustellen. Wiewohl das Blatt bei der Belegschaft gut ankam, scheiterte das Experiment letztlich an der sich zuspitzenden ökonomischen und politischen Lage.

Veranstaltungen
Am Freitag, 29. Januar, 19 Uhr, spricht der Bahnchef Rüdiger Grube im Forum Stuttgart 21 der "Stuttgarter Nachrichten" und der LBBW (Stuttgart, Am Hauptbahnhof 2). Eine Veranstaltung im Stuttgarter Rathaus am 8. Februar, 19 Uhr, informiert über die Hintergründe des Urheberrechtsstreits und die Klage des Bonatz-Erben Peter Dübbers.