Vor gut zwei Jahren entgleisten drei Züge bei der Ausfahrt aus dem Stuttgarter Hauptbahnhof. Warum es deshalb immer noch auf einzelnen Linien zu Verspätungen kommt.

Stuttgart - Wer viel Wartezeit im Stuttgarter Hauptbahnhof verbringen muss und sich die Fahrplananzeigen genau anschaut, merkt, dass das Gleis 10 nicht oft angefahren wird. Gleis 10 – dort gab es vor gut zwei Jahren drei spektakuläre Entgleisungen bei der Ausfahrt. Am 24. Juli und am 29. September 2012 war ein aus elf Reisezugwagen bestehender Intercity betroffen. Eine Testfahrt am 9. Oktober endete ebenfalls mit einer Entgleisung. Acht Verletzte und mehrere Millionen Euro Sachschaden insgesamt waren die Folge. Hinzu kamen enorme Auswirkungen auf den Fahrplan – das Gleis war über Monate gesperrt.

 

Gleis 10 darf schon lange wieder befahren werden. Doch das Eisenbahn-Bundesamt verhängte die Auflage, dass es nur von beidseitig angetriebenen Zügen befahren werden darf, um (zu) hohe Schubkräfte zu vermeiden. Diese Voraussetzungen erfüllt der ICE. Er ist der einzige Zug, der dieses Gleis im Hauptbahnhof befährt. Aus München kommend rollt ein ICE tagsüber zur Minute 47 in den Kopfbahnhof ein, den er zur Minute 51 in Richtung Mannheim wieder verlässt. Somit wird das Gleis jede Stunde nur für vier Minuten genutzt.

Bahn meldet die schadhaften Puffer als vermisst

Als Unglücksursache für die Entgleisungen nennt ein Untersuchungsbericht ein Versagen der Puffer. Zu hohe Anfahrdruckkräfte hätten dazu geführt, dass die Waggons aus den Gleisen gedrückt wurden. Die Grünen im Bundestag hegen Zweifel an dieser Darstellung, denn inzwischen ist bekannt geworden, dass die Puffer der an der Entgleisung vom 29. September beteiligten Wagen nicht mehr auffindbar sind. Das habe die DB Fernverkehr AG der Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes (EUB) mitgeteilt. Die Grünen-Abgeordneten Matthias Gastel, Cem Özdemir und Christian Kühn fragten im Bundestag, wie denn habe festgestellt werden können, dass die Zugentgleisung am 29. September 2012 „primärursächlich auf ein Versagen von Puffern an den im Zugverband laufenden . . . Wagen zurückzuführen ist“, wenn die entsprechenden Puffer laut DB Fernverkehr AG nicht mehr auffindbar waren. Vorhandene Puffer sollen untersucht werden. Die Frage, ob das Auffinden der verschwundenen Puffer zu einer erneuten Untersuchung führen werde, wurde mit einem knappen „Nein“ beantwortet.

Konkret betrifft die Auflage des Bundesamtes nur Gleis 10. Doch die DB wurde aufgefordert, ähnliche Vorkehrungen auch für andere Gleise zu treffen. Daraufhin hat die Bahn auch das Gleis 8 mit Einschränkungen belegt. Der Zug mit den Doppelstockwagen der Verbindung Ulm–Stuttgart–Heilbronn darf dort nicht mehr einfahren. Der Grund: weil alle Bahnsteige um 150 Meter verschoben wurden, um Platz für die S-21-Baugrube zu schaffen, musste das Gleisvorfeld mit weniger Platz auskommen. Die Radien wurden enger, und das gilt besonders für die Gleise 8 und 10. Vor dem Hintergrund der Zugentgleisungen soll vermieden werden, dass Loks schwere Züge in den Bahnhof einschieben, auf die dann konzeptbedingt starke Kräfte einwirken.

Verbindungen im nördlichen Baden-Württemberg instabil

Die Bahn untersucht derzeit Möglichkeiten, die Auflagen für Gleis 8 aufheben zu können, um wieder eine übliche Auslastung möglich zu machen, erklärte ein Sprecher auf Anfrage. Offenbar kann sich diese Prüfung noch einige Monate hinziehen. Auch die Bundestagsanfrage der Grünen greift dieses Thema auf: Um den während des Bahnhofsumbaus gegebenen Beschränkungen zu genügen – so wird aus einem EUB-Bericht zitiert – , sei bei der Trassierung dieser Ausfahrzugstraße „in diversen Punkten wie dem Gleisbogenradius, Längsneigung, Länge von Zwischengeraden von den Regelwerten/Soll-Vorgaben abgewichen“ worden. Enge Radien im Gleisfeld können demnach dazu beigetragen haben, dass der Druck auf die Puffer zu groß wurde.

Zurück zur Praxis: der Zug aus Ulm wird statt auf Gleis 8 auf das Gleis 9 geleitet, Abfahrt in Richtung Heilbronn zur Minute 45. Der eng gesteckte Taktfahrplan lässt keine andere Lösung zu. Weil die Ankunft von ICE und Abfahrt der Regionalbahn laut Fahrplan nur zwei Minuten auseinanderliegen, kommt es immer wieder vor, dass der Doppelstockzug auf die Einfahrt des ICE warten muss, der Vorrang hat. Sobald der Fahrplan des Nahverkehrszuges in Stuttgart durcheinandergerät, hat das Folgen für das gesamte Netz im nördlichen Baden-Württemberg. Verlorene Minuten aufzuholen ist kaum möglich, Anschlusszüge müssen warten und bringen weitere Verbindungen ins Wanken.