Stuttgarter Chefsache, kollegial und kongenial: im Kammertheater triumphiert Jossi Wieler mit der Uraufführung des neuen Stücks von Armin Petras. „I’m searching for I:N:R:I“ ist ein existenzialistischer Krimi mit Schauspielerfest.

Stuttgart - Der Spielraum ist übersät mit Gipsscherben. Mal ineinander verkantet, mal übereinander geschichtet bedecken sie den gesamten Boden von Wand zu Wand. Weiße Schollen im schwarzen Nichts des Kammertheaters, mit denen die Bühnenbildnerin Anja Rabes schlagend signalisiert, dass hier etwas zu Bruch gegangen ist. Und eben davon handelt auch das Stück, das auf den knirschenden Scherben, Schollen und Splittern uraufgeführt wird: „I’m searching for I:N:R:I“ ist ein Drama, in dem die Wahrheit nur Schritt für Schritt unter Schmerzen ans Tageslicht kommt. Und die Wahrheit ist: im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs gehen nicht nur Häuser und Städte zu Bruch, sondern Jahre danach auch die Biografien von Menschen, in denen der Krieg auf die ein oder andere Weise fortlebt. Nach zwei spannenden Stunden kennt man sich halbwegs aus in den Seelentrümmern, auch deshalb, weil man von diesem Zeitdrama gefesselt worden ist wie von einem Krimi.

 

Spannend wie das Stück selbst ist auch das Drumherum seiner Uraufführung. „I’m searching for I:N:R:I“ stammt von Fritz Kater, also vom Stuttgarter Schauspielchef Armin Petras, der sich das Kater-Pseudonym als Autor zugelegt hat. Für gewöhnlich bringt er als Regisseur seine Novitäten selbst auf die Welt, dieses Mal nicht. Das Werk mit dem kryptischen Jesus-von-Nazareth-König-der-Juden-Titel hat er vertrauensvoll in die Hände des Stuttgarter Opernchefs Jossi Wieler gelegt. Der Intendant inszeniert also den Intendanten – ein apartes Gipfeltreffen am Eckensee, das noch aparter wird, weil Wieler in den vergangenen sechs Jahren nur Musiktheater gemacht und dem Sprechtheater konsequent entsagt hat. Jetzt aber meldet er sich zurück und feiert mit „I:N:R:I“ ein Schauspiel-Comeback, das obendrein vor Augen führt, welche Schlagkraft im Staatstheater steckt, wenn seine Chefs in Form sind – und das gilt im vorliegenden Fall nicht nur für Wieler, sondern auch für Petras alias Kater.

Das beschädigte Leben

Es ist ein starkes, hochkomplexes Stück, das Kater/Petras dem Kollegen zur Uraufführung gegeben hat. Es ist noch stärker als das an den Rändern ausgefranste Vorgängerstück „Buch (5 Ingredientes de la Vida)“, mit dem er für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert worden ist. Ohne sich zu verzetteln, verwebt er in „I:N:R:I“ mehrere Handlungsfäden mit großer Stringenz zu einem dichten, vier Jahrzehnten überspannenden Stoff. Dabei wechselt er virtuos Orte und Zeiten, mischt Vergangenes und Gegenwärtiges, springt vom Erzählen ins Erinnern, vom Erinnern ins Erzählen und wieder hinein ins szenische Spielen. Nach und nach lässt dieses epische Erzählverfahren Muster im Stoff erkennen, Muster auch in den beschädigten Leben von Maibom und Rieke, deren Schicksale im Stückzentrum stehen.

Obwohl seit sieben Jahren ein Paar, kennen Maibom und Rieke einander nicht. Sie spielen sich gegenseitig etwas vor, nicht aus bösem Willen, sondern weil die Umstände es erzwingen. Denn was Maibom von Rieke nicht weiß: während des Kriegs hat sie ihren Geliebten an die Nazis verraten. Und was Rieke von Maibom nicht weiß: er ist ein polnischer Jude, der als Reporter um die Welt reist und im Auftrag des israelischen Geheimdiensts untergetauchte Nazis jagt, darunter auch jenen, dem sich Rieke als junges Mädchen in Berlin einst hingegeben hat aus purer Not und Verzweiflung . . .

Ja, das klingt nach Melodram und Kolportage. Und das bliebe es auch, würde Kater aus seiner 1941 in Berlin beginnenden, 1989 in der Vorwende-Zeit dort endenden Geschichte nicht ein Vexierspiel der Identitäten machen, in dem die großen ewigen Themen immer anwesend sind. Liebe und Verrat, Flucht, Entwurzelung und Heimatlosigkeit, Krieg, Gewalt und Hass: diese Motivfäden führt er in der verwickelten Handlung organisch in den Plot eingewoben mit, was ihm selbst bei der Sage von Orpheus gelingt, der Eurydike aus der Unterwelt holt und im Augenblick der größten Liebe wieder verliert. „I:N:R:I“ steckt mithin voller Ambitionen, ist mythologisch grundiert, philosophisch überhöht und doch so stabil konstruiert, dass es unter der Last des Materials nicht zusammenbricht – schon gar nicht bei Jossi Wieler, der das Fünfpersonenmosaik mit behutsamer Kongenialität inszeniert. In den Hauptrollen als Gäste dabei: die Ausnahmespieler André Jung und Fritzi Haberlandt, die zusammen mit Manja Kuhl, Lucie Emons und Matti Krause auch die Poesie des Kater-Texts zum Klingen bringen.

Mit selbstverständlicher Präsenz

Auf dem Boden des Kammertheaters also Scherben, darüber eine Leinwand: Inserts zeigen an, wo wir uns in dem Szenenpuzzle gerade befinden. Dezember 1959, Berlin-West: von den Bühnenrändern bewegen sich André Jung als Maibom und Fritzi Haberlandt als Rieke, vorsichtig über die Gipsbrocken steigend, aufeinander zu. Sie nehmen Abschied voneinander, denn der Reporter muss für einen Monat nach Brasilien, angeblich im Auftrag eines deutschen Nachrichtenmagazins.

Doch ehe sich die Liebenden jetzt treffen, stellt sich mit ihren ersten Sätzen auch schon ein Zauber im Kammertheater ein: In aller Selbstverständlichkeit, ohne Getue, Gemache, Gezappel, erzeugen Jung und Haberlandt eine Präsenz, die durch und durch persönlich ist, ohne privatistisch zu werden. Die zwei Spieler sind einfach da! Und werfen sich mit ihrem ganzen unwiderstehlichen Da-Sein in einen Erzähl- und Bewusstseinsstrom, der faszinierend schillernde, von ihnen wie nebenbei beglaubigte Sätze mit sich führt. Rieke, sagt Maibom, „stand absolut gegen den Rest der Welt, der bis zur Sinnlosigkeit banale Worte herausschleuderte/In Blumen sah sie eine andere Sprache/nicht etwa im Sinne der starren Symbolik alter Blumensprache/sondern in einem noch älteren/instinktiveren/nennen wir es vorsprachlichen Sinne“ – und an dieses geliebte Rätselblumenwesen erinnert sich Jung schon jetzt wie an eine Tote, melancholisch verhangen und aus weiter Ferne so nah.

Gummibaum, Asbach Uralt, Cool Jazz

Dieser Wehmutston, der jenseits aller Sentimentalität in der bitter existenzialistischen Sachlichkeit des Nachkriegs bleibt, durchzieht die ganze Inszenierung. Aber nur fast, denn dem lustvollen Spiel mit Genres, dem Kater in seinem Stück auch nachgeht, entzieht sich Wieler keineswegs. Bei ihm wird es sogar lustig. Wenn Maibom nach seiner Rückkehr aus Amerika seine verschwundene Geliebte sucht, greift der Regisseur zur Krimi- und Agentenparodie. Maiboms Ermittlungen in Sachen Rieke/Eurydike lässt er buchstäblich in der Unterwelt der Unterbühne stattfinden und in Schwarz-Weiß auf die Leinwand übertragen. Und immer, wenn Maibom/Orpheus aufschlussreiche Informationen erhält, spricht er tumb verschwörerisch in die Kamera: eine B-Movie-Verballhornung, die Wieler freilich nicht in die Totalklamotte juxt. Hier und anderswo setzt er seine Bühnenmittel mit Maß und Ziel ein. Und diese Reduktion ist dem Stück so dienlich wie die Präzision, mit der er die Szenen zeichenhaft aus der erzählten Zeit heraus entwickelt. Gummibaum, Asbach Uralt, Cool Jazz, Smith & Wesson – schon haben wir die Villa im Diplomatenviertel von Bonn-Bad Godesberg, Januar 1960, wo Orpheus und Eurydike eben auch zugange sind.

Jossi Wieler, so scheint’s, hat das Stück von Fritz Kater aufmerksam wie eine Partitur gelesen. Für die biografisch-historischen Tiefenbohrungen von „I:N:R:I“ hätte sich der schreibende Kollege Armin Petras also keinen besseren Regisseur wünschen können als diesen Mann von der Oper, der das Handwerk auch im Schauspiel noch beherrscht. Ohne crossmediale Überinstrumentierung krönt er diese spezielle Staatstheater-Chefsache mit einem wunderbaren Erfolg. Heftiger Premierenbeifall mit Bravo-Rufen für den exzellenten Existenzialisten-Krimi des Intendanten-Duos!