Vom Erfinder der Fliegenklatsche bis zum Weltmeister im Billard: in seinem neuen Stück „E. Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen“ forscht der Regisseur und Autor Jan Neumann den Söhnen und Töchtern der Stadt Stuttgart hinterher.

Stuttgart - Der Spiegel macht’s möglich: Wir betrachten uns selbst, minutenlang – wir, die Zuschauer, die im Kammertheater auf eine die gesamte Bühnenbreite einnehmende Spiegelwand blicken. Dort sehen wir uns selbst, auf der ansteigenden Tribüne sitzend und der Dinge harrend, die kommen werden – und es kommt Birgit Unterweger, die sich aus den Zuschauerreihen erhebt und mit rauer Stimme ins Geschehen einführt: Emil Bauer, Kriminalhauptkommissar, inspiziert ein Zimmer. In dessen Mitte, so die Trenchcoat tragende Erzählerin, liegt ein von Schmeißfliegen umsummter Mann zusammengesunken am Tisch. Er heißt wie der ermittelnde Kommissar, Emil Bauer – und schon im Prolog, das fügen wir hinzu, also eine weitere merkwürdige Spiegelung, die schon bald zu vielfältigen Nachforschungen in eigener Sache führen wird: An diesem Tatort geht es nicht nur um Emil Bauer, tot oder lebendig, sondern auch ums Publikum, hier in diesem Theater, hier in dieser Stadt.

 

Theater für die Stadt: Seit zwei Jahrzehnten werben Intendanten mit dieser Formel um die Gunst von Zuschauern und Politikern. Das ist gut so, auch wenn die Erfahrung lehrt, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit eine Lücke klafft. Regisseure, die sich mit ihren Projekten tatsächlich gewinnbringend auf eine Stadtgesellschaft einlassen, sind selten. Jan Neumann aber gehört zu dieser qualifizierten Minderheit: „E. Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen“ ist sein fünftes, gemeinsam mit den Spielern für Stuttgart entwickeltes Stück, das unter seiner Regie am Schauspiel uraufgeführt wird. Anders als in den Vorgängerproduktionen taucht er jetzt aber tief in die Vergangenheit ab, um die „Töchter und Söhne der Stadt“ – so der Untertitel der Szenenfolge – dem Vergessen zu entreißen. Und bei seiner Recherche mit dabei: Herr Bauer, dessen Spürsinn am Tatort, dessen Blick für noch so winzige Lebensspuren nun just das Besteck ist, mit dem auch Neumann und sein Ensemble der Stadthistorie auf den Leib rücken.

Dahingeschiedene B-Promis

In der Wohnung des Namensvetters stößt der Kommissar auf eine Fliegenklatsche, eine Daunenfeder, eine Billardkugel und ein Diktiergerät, auf den Mitgliedsausweis des Tierschutzvereins und auf Hölderlins gesammelte Werke – und so weiter und so fort mit dem häuslichen Requisiten, die bei genauerer Betrachtung allerdings ihre Vergangenheit preisgeben: Hinter jedem aufgefundenen Ding steckt ein Mensch, der „eingereiht in eine unendliche Kette von Genen, Gedanken und Geschichten“ eben mit diesem Ding verbunden ist, wie der Kommissar im Epilog philosophiert. Noch aber sind wir im Prolog, wo Unterweger plötzlich ihren Trenchcoat ablegt und in einem feschen Tanzkostüm den Stücktitel wie auf dem Jahrmarkt ausruft: „E. Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen“ schallt es laut und aufgekratzt durchs verspiegelte Kammertheater, in dem nun zwei Stunden lang eine Stadtgeschichte der anderen Art erzählt wird. Deren Helden sind Männer und Frauen, die einst berühmt waren und heute vergessen sind – und nun als dahingeschiedene B-Promis so bunt, aufgedreht und kabarettistisch auftreten, als wäre Stuttgart schon immer die Hauptstadt der dadaistischen Nummernrevue gewesen.

An originellen Spielideen mangelt es Neumann nicht. Munter chargiert sich sein sechsköpfiges Ensemble durchs Reich der theatralisch bizarren Möglichkeiten, die als erstes am Stuttgarter Erfinder Erich Schumm erprobt werden. Geboren 1907, gestorben 1979 hat er in seinem Leben mehr als eintausend Patente angemeldet, darunter auch – siehe oben – die Fliegenklatsche. Und weil es bei Schumm klanglich nahe liegt, begleiten die Spieler den Lebensabriss lautmalerisch mit dem Summen der Fliegen, die sich noch am Verwesungsgeruch des toten Bauer berauschen. So, in freien, luftigen Assoziationen spinnt sich das Stück fort und fort und bringt dabei bemerkenswerte Biografien zutage.

Die Stummfilm-Diva, die den Tonfilm nicht überlebte

Da ist etwa der Schuster Salomon Idler, der sich im 17. Jahrhundert mithilfe von Daunenfedern in die Lüfte erheben wollte und abstürzte; da ist auch der Billardspieler Erich Hagenlocher, der es im 20. Jahrhundert zum Weltmeister in seiner Disziplin brachte, 1926 in Philadelphia, 1934 in Chicago, dann aber von den Nazis zum Kriegsdienst gezwungen wurde und am „kalten Stahl“ seine Hände ruinierte – zwei Nummern mit starken Texten, die leider vom schwächsten Darsteller gegeben werden. Manuel Harder bleibt Manuel Harder, ein Privatperformer seiner selbst – und das fällt um so mehr auf, als die Kunst der Verwandlung von seinen Kollegen und Kolleginnen durchaus beherrscht wird.

Neben Harder und Unterweger spielen noch Boris Burgstaller und Mark Ortel, Susanne Schieffer und, last not least, Lea Ruckpaul. Sie vor allem, Ruckpaul, bewegt sich geschmeidig durch den surrealen Bilderbogen und glänzt dabei als Grete Reinwald, eine Stuttgarter Filmdiva der zwanziger Jahre, die den Tonfilm nicht überlebt hat: Als vor der Kamera auch Sprache gefordert war, reichte es bei ihr nur noch zur Nebendarstellerin. Worte überdeutlich mit dem Mund formend, in verzweifelter Bemühtheit, aber stumm wie ein Fisch, spricht Lea Ruckpaul in ein Mikro, das sich weigert, ihre Stimme zu übertragen.

Solche Szenen des leisen Scheiterns, der grotesken Verirrungen, der traurigen Abstürze sind die tragenden Säulen dieses historisierend verspiegelten Assoziationsgebäudes, um dessen Statik es allerdings nicht immer gut bestellt ist: Dem darin aufgeführten Reigen fehlt der innere Halt, die zwingende Notwendigkeit. „E. Bauers Sammelsurium der unsterblichen Sterblichen“ ist nicht das stärkste Stück, das Jan Neumann dem Stadtkörper bisher abgelauscht hat. Es ist auch ein Sammelsurium gelingender und misslingender Szenen.