An der Diemershaldenstraße in Stuttgart eröffnet im November das erste stationäre Kinder- und Jugendhospiz in Baden-Württemberg. Nadja und ihre Familie werden von der Einrichtung unterstützt. Das fünfjährige Mädchen hat einen großen Wunsch.

Stuttgart - Sie zieht die Zehenspitzen zur Nase, verknotet Arme und Beine. Und sie lacht, weil sie sich so gut verrenken kann. Nadja hat heute einen guten Tag: Sie ist fröhlich und tobt wie andere Kinder auch. Doch Veronika und Jürgen Kuntz lassen sie nicht aus den Augen: Sie haben Angst um ihre Tochter: Nadja ist ein sogenanntes Schmetterlingskind. Sie leidet an Epidermolysis bullosa dystrophica. Bei der seltenen Erbkrankheit ist die Haut so verletzlich wie der Flügel eines Schmetterlings. „Fällt sie hin oder stößt sich, platzt die Haut. Überall am Körper hat unser Kind Blasen und offene Wunden“, sagt Veronika Kuntz.

 

Veronika Kuntz’ Schwangerschaft verlief normal. Die heute 50-Jährige und ihr Mann erfuhren erst kurz nach Nadjas Geburt, dass sie ein Kind mit „verkürzter Lebenserwartung“ haben. „Sie ist mit offener Brust, offenem Bauch und offenen Füßen auf die Welt gekommen“, sagt Jürgen Kuntz. Der inzwischen 42-Jährige und seine Frau hofften zunächst, ihr Kind habe nur einen Infekt. Als die Mediziner wenige Tage später den Kopf schüttelten, zog es den Eltern den Boden unter den Füßen weg. Jürgen Kuntz: „Meine erste Frage war: Wie lang wird Nadja leben?“ Die Ärzte wissen bis heute keine Antwort. Im Verlauf der Krankheit werden Füße und Finger verwachsen. Die Organe können versagen. Weil sie nicht mehr schlucken konnte, musste Nadja bereits zweimal an der Speiseröhre operiert werden.

Nadjas großer Wunsch: eine Freundin zu finden

Seit der Geburt der Tochter hat sich das Leben der Familie verändert. Das Schlafzimmer der Eltern ist zum Krankenzimmer geworden. In einer Ecke steht eine Pflegeliege. Morgens und abends müssen dort Nadjas Wunden gesäubert und, um sie vor Stößen zu schützen, ihr gesamter Körper frisch verbunden werden. Aus dem Verband, über dem Nadja ein Kleid trägt, schauen nur die Fingerspitzen raus. „Das Verbinden dauert pro Tag vier Stunden und länger“, sagt die Mutter. Freunde und Bekannte haben sich von der Familie zurückgezogen, weil das Paar keine Zeit mehr für spontane Unternehmungen hat. Und vielleicht auch, weil sie den Anblick und das Zusammensein mit einem so kranken Kind nicht verkraften, vermutet die Mutter. Denn Nadja hat auch schlechte Tage: Dann schreit sie vor Schmerzen, wenn sie hinfällt. Oder ihr Gesicht ist eine einzige große Wunde, weil auch dort die Haut platzt.

Der größte Wunsch des Mädchens: „Ich möchte so gern wieder eine Freundin haben.“ Die gab es mal, doch spielt die jetzt mit anderen Kindern. Der Grund ist, dass die Fünfjährige mit Gleichaltrigen nicht mithalten kann. „Kinder orientieren sich nicht an Schwächeren“, stellt Veronika Kuntz mit Tränen in den Augen fest. Es schmerzt sie, dass andere Kinder ihr Kind so ausgrenzen. Damit ihre Tochter gleichaltrige Freunde findet, haben die Eltern für sie einen Platz in einer Kindertagesstätte gesucht und auch gefunden. Trotzdem ist Nadja immer noch zu Hause. „In der Kita muss sie von einer Pflegekraft betreut werden. Doch die Diskussion zwischen Krankenkasse, Sozialamt und Jugendamt, wer für deren Einstellung und Bezahlung zuständig ist, zieht sich bereits seit Monaten hin“, sagt Nadjas Mutter.

Wenn im November in Stuttgart das bislang einzige stationäre Kinder- und Jugendhospiz im Südwesten eröffnet, könnte Nadja für eine bestimmte Zeit dorthin, um Kontakt zu anderen Kindern zu bekommen. Das Haus an der Diemershaldenstraße hat acht Plätze für schwerstkranke Kinder und fünf Appartements für Familien. Doch das möchten die Eltern nicht. Über die Einrichtung sind sie trotzdem froh: Schon jetzt unternimmt ein Mitarbeiter mit Nadjas großem Bruder Chris Ausflüge zum Beispiel nach Tripsdrill oder in die Mercedes-Benz-Arena zu Spielen des VfB. Denn der Zwölfjährige muss oft zurückstecken, weil seine kranke Schwester einen Großteil der Zeit der Eltern beansprucht. „Das ist halt so“, sagt er und klingt zu erwachsen für seine zwölf Jahre. Das Kinderhospiz ermöglicht der gesamten Familie Kuntz, Veranstaltungen wie den Weltweihnachtszirkus zu besuchen. Etwas, was sie sich finanziell kaum leisten könnten.

„Das Kinderhospiz ist nicht nur fürs Sterben, sondern auch fürs Leben zuständig“, sagt Jürgen Kuntz. Doch wie lange seiner Tochter Zeit bleibt, eine Freundin zu finden, ist ungewiss. Darüber wollen Veronika und Jürgen Kuntz auch nicht nachdenken. „Es kommt, wie es kommt“, sagen sie. Sie wissen: Nadjas Krankheit ist unheilbar, kommt auch nicht zum Stillstand. Und: Schmetterlinge leben nicht lang – aber sie machen die Welt für kurze Zeit bunt.und schön.

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