Vermutlich sind in der NS-Zeit auch am städtischen Kinderkrankenhaus in der Türlenstraße geistig und körperlich behinderte Kinder getötet worden. Lotte Baßler hat damals dort hospitiert und sich über die lethargischen Säuglinge gewundert.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Es ist eine Debatte, die vielen Menschen unter die Haut geht: Vermutlich sind in der NS-Zeit auch am städtischen Kinderkrankenhaus in der Türlenstraße geistig und körperlich behinderte Kinder getötet worden – doch die Stadt Stuttgart lehnt es ab, eine Gedenktafel aufzustellen. Es gebe keine eindeutigen Beweise. Ein Artikel in der Stuttgarter Zeitung hat zahlreiche Reaktionen ausgelöst.

 

Die wichtigste stammt von Lotte Baßler, denn sie ist die vermutlich letzte – und bisher unbekannte – Zeitzeugin. Im Jahr 1942 habe sie als junges Mädchen drei Wochen im Kinderkrankenhaus hospitiert, erzählt die betagte Dame. Ihr sei es sehr seltsam vorgekommen, dass die Säuglinge immer reglos im Bett lagen, nie schrien und, bis auf eine Ausnahme, auch nie Besuch erhielten. Manchmal habe am nächsten Morgen ein Kind gefehlt. Bis zu dem Bericht in der StZ habe sie keine Verbindung zur Ermordung behinderter Menschen im Nationalsozialismus gezogen, jetzt sehe sie das anders: „Die Oberschwester hatte uns auch gesagt, wir dürften niemandem etwas erzählen.“

Briefe legen Existenz einer solchen Abteilung nahe

Die meisten Historiker gehen in der Tat davon aus, dass es auch in Stuttgart, wie in etwa 30 anderen deutschen Städten, eine sogenannte Kinderfachabteilung gab. Gesundheitsämter mussten Kinder mit Behinderung an einen Reichsausschuss in Berlin melden; dort wurde nach Aktenlage entschieden. Die Ärzte töteten die eingewiesenen Kinder dann meistens mit einer Überdosis Luminal, einem Betäubungsmittel. Ein Historiker, Rolf Königstein, hegt allerdings Zweifel; niemand habe die Ärzte in Stuttgart je belastet. Darauf gründet letztlich die Absage von Bürgermeister Werner Wölfle bezüglich der Gedenktafel.

Karl-Horst Marquart, der beste Kenner der Stuttgarter Euthanasie-Geschichte, hat aber ein weiteres sehr starkes Indiz für die Existenz der „Kinderfachabteilung“ in Stuttgart vorgelegt. In zwei Briefen tauche der Begriff explizit auf, so in einem Schreiben des Reichsausschusses vom 8. August 1944 an das Arbeitsamt in Neustadt; darin wird einer Frau nahegelegt, ihr Kind in diese Abteilung in Stuttgart aufnehmen zu lassen. Für andere Abteilungen wurde der Terminus aber nicht verwendet. Marquart vermutet auch, dass die Totenscheine zur Verschleierung mit falschen Namen unterschrieben wurden, was Stadtarchivar Roland Müller in einer Stellungnahme als nicht bewiesen ansieht: „Das kann letztlich nur ein grafologisches Gutachten klären“, sagt Marquart. Zu Wort gemeldet hat sich auch die Kulturwissenschaftlerin Gudrun Silberzahn-Jandt, die in diesem Jahr ein Buch über die Euthanasie in Esslingen veröffentlicht hat. Bei ihren Studien ist sie auf Dokumente über die sechsjährige Margot Mauz gestoßen, die im Februar 1944 in das Stuttgarter Kinderkrankenhaus aufgenommen wurde und dort am 30. März angeblich an Kapillartuberkulose starb. Silberzahn-Jandt ist sich aufgrund der äußeren Umstände ziemlich sicher, dass Margot Mauz dort getötet wurde.

In Leipzig gibt es einen eigenen Erinnerungsort

Thomas Müller vom Leipziger Psychiatriemuseum, das von einem Verein getragen wird, hat in einem Brief an Bürgermeister Wölfle sein Unverständnis über die Reaktion der Stadt zum Ausdruck gebracht. Ein letzter Beweis für eine Kinderfachabteilung sei oft nicht zu erbringen, da die Ermordungen in großer Geheimhaltung vonstattengingen. Leipzig habe dennoch eine Wanderausstellung erarbeitet, einen Erinnerungsort eingerichtet und eine Webseite gestaltet.

Ein Stuttgarter Arzt äußerte zuletzt Verständnis für Wölfles Argument, dass eine Gedenktafel Patienten erschrecken könne, zumal im heute in der Türlenstraße 22 untergebrachten Behandlungszentrum Mitte vor allem psychisch kranke Menschen therapiert werden. Über den Ort für die Tafel ist aber nicht mehr konkret gesprochen worden. Überhaupt war die Tafel nur ein Vorschlag gewesen; dem Stuttgarter Arbeitskreis „Euthanasie“ war es in erster Linie darum gegangen, nach einer gemeinsamen Ausstellung die Kooperation mit der Stadt fortzusetzen.