Die kolumbianische Jugendphilharmonie, der Dirigent Andrés Orozco-Estrada und der Cellist Daniel Müller-Schott haben die Stuttgarter Liederhalle entflammt.

Stuttgart - Nach dem Konzert ist vor dem Konzert. Als die Zuhörer am Donnerstagabend den Beethovensaal verlassen, tönen ihnen laute Schlagzeugrhythmen und helle Flötentöne entgegen: Musiker des Columbian Youth Philharmonic, die eben noch drinnen klassische Musik gespielt hatten, bringen nun auch noch Klänge ihrer Heimat unter das Stuttgarter Volk. Begeistertes Klatschen, eine Dame im roten Kleid beginnt zu tanzen. Glücklich lächelnde, beschwingte Menschen gehen hinaus in die Nacht. Sie haben nicht nur das letzte Saisonkonzert der Reihe „Faszination Klassik“ erlebt, sondern etwas sehr Besonderes geschenkt bekommen: unbändige Energie.

 

Geschenkt bekamen sie vor Beginn außerdem noch einen kleinen bunten Plastikvogel. Mit dem durfte, wer wollte, blasend das einleitende Stück des Kolumbianers Jimmy López, „América salvaje“ („Wildes Amerika“), tirilierend ergänzen, eine sehr bildkräftige, farbig (unter anderem mit wirkungsvoll eingesetzten Muschelhörnern) instrumentierte Musik, die sich durch Streicherdschungel hindurch zu Bläsern und Schlagzeug, zu Tanz und Choral voran arbeitet.

Der Cellist Daniel Müller-Schott entpuppt sich anschließend vor allem beim innigen Singen von Max Bruchs „Kol Nidrei“ als kongenialer Herzenspartner des Orchesters; bestechend wirkt die Detailgestaltung des Solisten, der, immer auf der Suche nach dem schönsten aller Klänge, zuweilen jeden einzelnen Ton seiner weiten Phrasen individuell abtönt. In Tschaikowskys „Rokoko-Variationen“ hingegen geht Müller-Schott dem leicht Verzopften des Stücks auf den Leim, riskiert zu viel Sentiment, arbeitet mit allzu vielen von unten angeschliffenen Tönen und kultiviert (nicht nur im großen Andante-Satz) effektheischend oft eine allzu zähe Langsamkeit.

Ein Wirkungsmusiker ist auch der Dirigent Andrés Orozco-Estrada. Am liebsten hätte der Kolumbianer, der sich am Pult auch körperlich verausgabt, wohl jeden Takt dynamisch, klangfarblich und im Tempo individuell gestaltet, aber da so etwas mit einem noch nicht ganz so erfahrenen (und hier zudem mit acht Kontrabässen und Celli massiv besetzten) Orchester nicht gelingen kann, verwackelt bei Tschaikowskys fünfter Sinfonie ziemlich Vieles. Zumal in den beiden ersten Sätzen wirkt die Musik eher addiert als interpretiert. Frische allerdings: Sie ist da. Und so viel Kraft, so enorm viel Energie, dass sie alle Einwände ganz klein werden lässt. Ein imperfektes Konzert – aber ein perfekter, unglaublicher Konzertabend.