Im März wird Martin Walser 85. Schon jetzt hat er in Stuttgart ein wenig vorgefeiert und im Literaturhaus gelesen – Texte, die sich die Leser wünschten.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Das ist ja nicht bei jeder Geburtstagsfeier so, aber speziell auf dieser hatten alle Beteiligten gute Laune. Das Publikum im Literaturhaus war bereits vor Beginn in aufgeräumter Stimmung, der Jubilar füllte sich und seiner Moderatorin mit großem Schwung die Weingläser, und in der ersten Reihe nahm auch Oberbürgermeister Wolfgang Schuster mit seiner Frau Platz; beiden war anzumerken, wie gern sie einen sicher anstrengenden Tag mit angekündigtem Abschied und zahlreichen nachfolgenden Gesprächen und Interviews in diesem Kulturfest ausklingen ließen.

 

Und es wurde für alle Martin-Walser- Fans zweifellos ein Fest. „Ein literarisches Wunschkonzert“ lautete die Überschrift für den ersten Abend des Stuttgarter Literaturhauses im neuen Jahr. Der Autor feiert seinen 85. Geburtstag zwar erst am 24. März, doch schon jetzt und gerade darum dreht der SWR-Autor Frank Hertweck eine (Respekt!) neunzigminütige Dokumentation für den TV-Sender 3Sat. Hierfür den Schriftsteller lesend vor die Kameralinsen zu bekommen war der eigentliche Anlass und Zweck des Abends. Und um den Schriftsteller wiederum zum Lesen zu animieren, durften sich die Zuhörer etwas von ihm wünschen.

Wobei besagtem Publikum mitgebrachte Wünsche und Interessen wenig nützten, denn alles, was sie sagen durften, waren ein paar Zahlen. Auf dem Podium aufgebaut standen insgesamt 24 Bände mit Walsers gesammeltem Werk aus 55 dichterischen Jahren. Da hieß es, Lotto spielen: „Band 18, Seite 460“, durfte man zurufen. Oder: „Band 11, die erste Textseite“. Und dann griff sich der Schöpfer den genannten Band, erblätterte die entsprechende Seite und las von oben links bis unten rechts vor, was eben auf gewünschter Seite stand. Wobei, da solche Buchseiten ja häufig mitten im Satz beginnen, er noch den Satzanfang von der Seite zuvor und das Satzende auf der folgenden mitvortrug.

Der Zufall führt einmal quer durchs Werk

Das liest sich hoffentlich wenigstens halb so munter, wie es in Wirklichkeit war. Man muss sich das in der Praxis ungefähr so vorstellen: Moderatorin erwählt Wünschenden. Zahlen werden genannt. Autor sucht. Autor findet. Kleine Pause zwecks Einlesens. Dabei immer mal wieder ein „ach ja . . .“. Oder auch „ach so . . .“. Seltener ein rasches „Aha!“ Dann Beginn des Lesens, zunächst leicht stockend, begleitet vom mehr oder weniger stirnrunzelnden Publikum, das versucht, sich irgendeinen Zusammenhang zu erschließen. Sodann Übergang zu flüssigerem Lesen des Autors bei zusehends entspannteren Zuhörerminen. Abschließend ein jäher Rauswurf am Seiten- und Satzende, begleitet von kurzem Schweigen – und abschließendem Applaus über die derart völlig neue Pointe.

Der Zufall wollte es, dass man Ausschnitte aus zentralen Walser-Romanen hörte, von den „Ehen in Philippsburg“ über „Die Verteidigung der Kindheit“, den „springenden Brunnen“ und den „liebenden Mann“ bis zum „Muttersohn“. Der Zufall wollte es auch, dass man so den Auftakt der Dankesrede Martin Walsers beim Empfang des Hermann-Hesse-Preises im Jahre 1957 hörte, in dem sich der Geehrte darüber ausließ, dass ein Schriftsteller sich ganz unmöglich von einem Ort jenseits der Gesellschaft über die Gesellschaft, und noch dazu kritisch äußern könne. Befriedigt stellte der 84-Jährige fest, dass er schon mit dreißig Jahren recht gehabt habe.

Und noch lustiger war der Zufallstreffer „Band 10, Seite 23“, der schnurstracks in das Hörspielwerk führte und in eine relativ frühe Südfunk-Produktion, in der Walser die völlig ungerechte Verteilung gesellschaftlichen Reichtums am Beispiel ausbleibender staatlicher Baukostenzuschüsse für bedürftige Familien anprangerte. Experimentell, wie Hörspiele damals waren, hatte der junge Autor einen Wechselgesang von Sprechchören geschaffen, die der Martin Walser des Jahres 2012 im Stuttgarter Literaturhaus nun aus der Erinnerung auch mit der damaligen Melodie wiedergab. Herrlich. Wie auch die Feststellung des heutigen Walsers, womöglich sei sein Thema damals nicht ganz von der persönlichen Wohnsituation zu trennen gewesen – mit Frau und Kind in sehr beengter Stuttgarter Mietswohnung; „Von der Haustür aus ging’s gleich ins Wohnzimmer, und das war ja auch das Schlafzimmer.“

Der Schluss soll immer versöhnlich sein

Wie überhaupt das nach dem Textverlesen folgende Erinnern und Einordnen der schönste Teil des Wunschkonzertes war. Denn natürlich ist es faszinierend zu erleben, wie sich ein Autor mit einem derart großen und facettenreichen Werk an alle Figuren und so viele Aspekte ihres Werdens und Gedeihens erinnern kann, wie sie weiter ein lebendiger Teil von ihm sind. Diesen Erzählteil hätte man sich, von der Moderatorin Thea Dorn ermuntert, gern noch etwas ausführlicher gewünscht. Vermutlich sind es aber gerade solch räsonierende Teile gewesen, die für den späteren TV-Film am wenigsten benötigt wurden.

Über den Schluss eines Romans hat Walser dann noch ein wenig laut nachgedacht, den „unschuldigsten Teil“ der Geschichte, „denn von der Mitte des Romans an schnurrt ja alles so fort und der Autor ist nur noch Erfüllungshilfe des Gewordenen“. Romane, so Walser, müssten besser ausgehen als die Wirklichkeit, ihr Ende müsse einen „weißen Schatten“ werfen. Vom Einwand Dorns, der Autor neben ihr ließe am Ende einer Geschichte aber gern auch mal Frauen in Autos von Klippen stürzen, wo denn da der „weiße Schatten“ sei, ließ er sich nicht beirren: „Wenn man am Ende der Lektüre nicht versöhnt ist, dann war man entweder für diesen Roman nicht der richtige Leser, oder es war für den Leser nicht der richtige Roman.“ Umfassend versöhnt dankte das Publikum.