Andauernder Juckreiz kann zur Qual werden und den Alltag zur Hölle machen – und das nicht nur bei der Hautkrankheit Neurodermitis.  

Stuttgart - Ein Wollpulli auf nackter Haut, Brennnesseln oder Insektenstiche jucken manchmal sehr unangenehm, und reflexartig kratzt man sich. Stört es zu sehr, kann man den störenden Wollpulli ausziehen und der Juckreiz verschwindet. Auch bei Brennnesseln oder Insektenstichen beruhigt sich die Haut wieder. Diese Art des Juckreizes ist harmlos. Für unsere Vorfahren war er sogar sinnvoll, da diese sich durch das Kratzen schädliche Parasiten von der Haut entfernten.

 

Doch der Juckreiz kann auch krankhaft werden und den Alltag zur Hölle machen. "Es gibt viele verschiedene Erkrankungen, die den Patienten dazu zwingen, sich zu kratzen, bis das Blut kommt", erklärt Johannes Ring, Ärztlicher Direktor an der Hochgebirgsklinik Davos beim diesjährigen dreitägigen Medizinerkongress, der am Wochenende auf der Stuttgarter Messe zu Ende ging. Starker Juckreiz trete bei Hauterkrankungen wie Neurodermitis, Schuppenflechte oder Gürtelrose auf. Juckreiz müsse jedoch nicht unbedingt etwas mit der Haut direkt zu tun haben. Auch bei Nierenschäden, Leberleiden, Diabetes oder Anorexie jucke es die Patienten. Auch auf Eisenmangel reagiere der Körper mit gereizter Haut. Juckreiz sei zudem eine häufige Nebenwirkung diverser Medikamente. "Der Juckreiz wird völlig unterbewertet, sowohl im medizinischen und wissenschaftlichen Bereich wie auch in der Gesellschaft. Die Person kratzt sich eben, heißt es oft lapidar", sagte Ring. Doch die Patienten und deren Umfeld seien gequält: Betroffene würden am liebsten im wahrsten Sinne des Wortes aus der Haut fahren. Er habe Patienten erlebt, die kurz davor waren, aus dem Fenster zu springen, berichtet der erfahrene Mediziner.

Ein Reflex, den man nicht einfach wegzaubern kann

Ausgelöst wird das Juckgefühl im Gehirn. Irritationen auf der Haut rufen sowohl das Nervensystem als auch das Immunsystem auf den Plan: Immunzellen senden Botenstoffe aus, spezielle Nervenzellen leiten Impulse zum Gehirn, das uns befiehlt, reflexartig sofort zu kratzen. "Im Gehirn sind verschiedene Bereiche aktiv. Dabei handelt es sich um ein multidimensionales Geschehen", erklärte Ring. Motorische Komponenten steuerten die Bewegung, Teile des lymbischen Systems seien für emotionale Aspekte verantwortlich und kognitiv werde das Kratzen zudem verarbeitet. Doch der derzeitige Wissensstand über den Juckreiz sei sehr lückenhaft. Es gebe kaum wissenschaftliche Forschung dazu. Das liegt vor allem daran, dass es den Juckreiz schlechthin nicht gibt: Der geplagte Mensch beschreibt seine schier unerträgliche Belästigung völlig unterschiedlich und bewertet die Qual individuell.

"Im Vergleich zum Schmerz, als dessen kleiner Bruder das Jucken lange galt, reicht die Sprache nicht aus", so der Mediziner aus Davos. Während jeder Schmerzpatient zwischen kolikartigen Anfällen und brennenden Schmerzen unterscheiden könne, gebe es keine derartigen einheitlichen Begriffe für die unangenehme Empfindung auf der Haut - "und mit den verschiedenen deutschen Dialekten wird es völlig chaotisch". Schwierig sei es zudem, das Jucken objektiv zu messen. Außerdem haben Forscher es schwer, weil es kein geeignetes Tiermodell gibt. Der Reaktion eines Tieres ist es nicht zu entnehmen, ob es einen Reiz als Schmerz oder Jucken empfindet. "Es gibt wissenschaftlich noch einiges zu tun", fasst Ring zusammen.

In einem endlosen Teufelskreis zwischen Jucken und Kratzen befinden sich Menschen mit Neurodermitis. Sie werden nicht erlöst, wenn sie sich kratzen. Ganz im Gegenteil: die Qual bleibt, weil durch das Kratzen der Juckreiz zusätzlich verstärkt wird. Daher werden diese Patienten in der Hochgebirgsklinik in Davos unter anderem darin geschult, wie sie diesem Teufelskreis entkommen können. Martina Premerlani kümmert sich in Davos vor allem um Kinder und Jugendliche und deren Angehörige. "Der Juckreiz ist ein Reflex, den kann man nicht einfach wegzaubern. Es braucht sehr viel Zeit und noch mehr Geduld, um den Kratzstopp zu erlernen", berichtete die Schweizerin. Es gehe darum, den Teufelskreis im richtigen Moment zu unterbrechen und das automatische Kratzen in einen anderen Automatismus umzulenken - vorausgesetzt dabei sei die konsequente und richtige Hautpflege. Eine gute Strategie seien Ablenkungsmanöver, um die juckenden Signale aus dem Gehirn zu verdrängen: "Ein spannendes Buch, Sport, Klangspiele, Singen oder Malen können das Kind in eine andere Welt mitnehmen." Statt die Haut mit den Fingernägeln zu malträtieren, könne das Kind den Juckreiz mit Kneifen, Klopfen oder Reiben beschwichtigen. Als erste Hilfe empfiehlt sie Kühlung: Das beginnt bei der Temperatur und der Wahl der Farben des Kinderzimmers sowie kühlender Kleidung, vor allem nachts. Trockene oder nasse Kühlelemente - je nach persönlichem Empfinden - seien im Notfall sinnvoll. Auch das Schlafen wird in Davos geübt, sowohl mit den Kindern als auch mit den Eltern, so dass das Leben mit der Hauterkrankung zu meistern ist.

Medizinmesse 2012 in Stuttgart

Kongress Beim 47. Ärztekongress auf der Stuttgarter Messe konnten sich Mediziner, medizinische Fachangestellte, Physiotherapeuten und Medizinstudenten an drei Tagen informieren und ihr Fachwissen austauschen. Etwa 7000 Besucher nutzten in diesem Jahr das Angebot. Bei der an den Kongress angeschlossenen Fachmesse wurden Medizinprodukte präsentiert: neue Software zur Analyse, neue Entwicklungen in der Lasertherapie oder spezielle Behandlungsliegen sind nur wenige Beispiele der Produktpalette.

Themen Beim Kongress drehte sich in diesem Jahr schwerpunktmäßig alles um das Thema Schmerz: In verschiedenen Vorträgen konnten sich die Besucher beispielsweise darüber informieren, wie akute Schmerzen erträglicher werden und wie chronische Schmerzpatienten ihren Alltag angenehmer gestalten können. Doch auch Vorträge zu anderen Themen, wie etwa Umwelt- und Sportmedizin sowie psychische Aspekte von Krebserkrankungen waren gut besucht.