Im Stuttgarter Nord dramatisiert Mareike Mikat einen Roman von Émile Zola: Im „Paradies der Damen“ untersucht der Schriftsteller die Geburt der Konsumgesellschaft. Was kulturhistorisch von Reiz ist, kann sich auf der Bühne aber nur schwer behaupten.

Stuttgart - Hier und heute, 2014 in Stuttgart, regiert die Prosa des Konsumalltags. C&A, H&M, Peek & Cloppenburg: die Warenhäuser der Innenstadt tragen traurige Kürzel oder firmieren, aufgehäuft zu gesichtslosen Einkaufszentren, unter kalten topografischen Begriffen wie Gerber und Milaneo. Früher aber, als noch nicht jeder alles und überall kaufen konnte, war man von dieser merkantilen Nüchternheit weit entfernt. Das Reich des Konsums schmückte sich noch mit der Poesie der Exklusivität, zum Beispiel im Paris des 19. Jahrhunderts, als mit starken, schönen und schillernden Metaphern der Kunde und vor allem die Kundin verführt werden sollten: „Paradies der Damen“ – Tusch – heißt das Kaufhaus, das seine unwiderstehliche Attraktivität mit glänzenden Wortfanfaren in die Stadt schmettert. Sagenhaft! Primark kann da, ästhetisch betrachtet, im Hier und Heute nur noch ramschhaft abstinken.

 

Angelockt von diesem „Paradies der Damen“ fühlte sich auch der französische Schriftsteller Émile Zola. Das fiktive, gleichwohl realen Vorbildern nachempfundene Kaufhaus der Verheißungen machte er zum Hauptschauplatz seines gleichnamigen, 1883 erschienenen Romans, der Teil eines zwanzig Bände umfassenden Zyklus ist. In diesem lebensumspannenden Großprojekt – Titel: „Die Rougon-Macquart“ – nutzte der Dichter eine weit verzweigte Familiengeschichte, um mit hoher Anschaulichkeit die sozialen, politischen und ökonomischen Umwälzungen seines Jahrhunderts zu beschreiben. Mit süffiger Prosa setzte er dem Bergwerk und dem Großmarkt, der Mietskaserne und der Börse einzigartige literarische Denkmäler – und eben auch dem „Paradies der Damen“, diesen metaphorisch umrankten und mythisch umraunten Kathedralen des Konsums, denen Zola gleichsam bei ihrer Geburt zuschaute. Was er dabei beobachtete, ist bis auf den heutigen Tag von enormem kulturgeschichtlichem Reiz.

Das Verkaufsgenie von Paris

Wie eine Bibel der modernen Konsumgesellschaft liest sich der Sechshundert-Seiten-Roman, den Zola akribisch recherchiert hat. Die Marktmechanismen, die er in der Phase ihrer fast noch unschuldigen Erprobung untersucht, stellten sich nämlich als weg- und zukunftsweisend heraus. Nichts fehlt, alles ist da in dieser Breitwandgeschichte über das unaufhörliche Wachstum eines Warenhauses, dem die Einzelhändler scharenweise zum Oper fallen – und die Expansion gelingt, weil der Chef des Damenparadieses schon im Frühkapitalismus auf jene Methoden setzt, die auch im Spätkapitalismus noch in Mode sind. Octave Mouret weiß, wie man die Konkurrenz ausschaltet – mit Dumpingpreisen – und die Herzen der weiblichen Kundschaft gewinnt. Mit einer alle Sinne betörenden Präsentation der Waren gelingt es dem Verkaufsgenie, sich die Frauen von Paris hörig zu machen. Nur eine vermag es, sich seiner allumfassenden Macht zu widersetzen. Die kleine Verkäuferin Denise weigert sich, das Liebeswerben des großen Octave zu erhören. Denn auch das steckt, neben präzisen Milieustudien, im „Paradies der Damen“: eine sentimentale, alle Klassengegensätze überwindende Liebesgeschichte.

Und welche Geschichte erzählt nun Mareike Mikat, die Zolas Roman im Stuttgarter Schauspiel auf die Bühne bringt? Die Regisseurin, Jahrgang 1978, erzählt alles – und nichts. Oder zumindest doch nichts, was im Nord irgendeine Dringlichkeit, irgendeine Stoßrichtung erkennen ließe. Linear folgt die Regisseurin dem Handlungsverlauf von A bis Z, ohne dabei Schwerpunkte zu setzen – und weil auch ihre szenische Fantasie an diesem Abend überschaubar bleibt, breitet sich im Theater schnell eine beinahe drei Stunden währende, sehr lähmende Harmlosigkeit aus.

Der Katalog der Schauspieler

Harmlos und putzig ist schon das Kaufhaus, das Simone Manthey auf die Bühne gestellt hat: eine Puppenstube im orientalischen Stil, die auf der offenen Spielfläche hin- und hergefahren werden kann. Die Spielfläche selbst gleicht einem schulischen Verkehrsübungsplatz mit aufgezeichneten Straßen und Grundstücken, die jetzt Paris darstellen – eine Modellbaukastenstadt, die genügend Platz lässt für die verstaubte Trickkiste, in die nun unter Anleitung der Regisseurin die Schauspieler greifen müssen. Mal wird episch erzählt, mal dialogisch geredet, mal das Mikro angeschaltet, mal das Video angeworfen, mal pantomimisch agiert, mal improvisatorisch aus der Rolle gestiegen. Und, und, und: vorschriftsmäßig exekutiert das siebenköpfige Ensemble den gängigen Katalog der Romandramatisierungen – und wäre da nicht zu guter Letzt Sandra Gerling als tugendhafte, aus der Zeit gefallene Denise Baudu, fiele diese ideenarme Aufführung rasch dem völligen Vergessen anheim.

Gerling aber bahnt sich ihren Weg in die Erinnerung der Zuschauer just so, wie sie sich bei ihrer Ankunft in Paris den Weg zur Verwandtschaft bahnt. Entschieden, aber freundlich fragt sie das Publikum nach der Route, im Schlepptau die beiden Brüderchen, um die sie sich in der großen Stadt kümmern muss. Stiefeletten, Hängekleid, Hornbrille, Struwwelpeter-Frisur, schwarz von Kopf bis Fuß: eine wundersame Märchenfigur aus einem Kaurismäki-Film, gemischt aus Aschenputtel und hässlichem Entlein und mit einem Herz, das zu gut ist, um jemals stolz zu sein. Denise wird bespottet, gedemütigt, schikaniert, sie ist verwirrt, erschöpft, traurig – doch nichts und niemand kann dieses Mädchen von einem anderen Stern beugen und brechen. Ein Monument der Duldsamkeit, Aufrichtigkeit und Tugendhaftigkeit – und in der Verkörperung von Sandra Gerling der attraktivste Posten im Warenhaus der matten Inszenierung. Sonst ist das Angebot im „Paradies der Damen“ doch eher auf Primark-Niveau.

Aufführungen am 21. Dezember sowie am 2., 10. und 25. Januar.