Das Stuttgarter Schauspiel von Armin Petras erobert den öffentlichen Raum: „Nord – Ein Stadtteil dreht sich“ ist ein Projekt mit sechs Folgen, bei dem Jugendliche den Stuttgarter Norden erkunden. Am Freitag geht’s in der Waldorfschule am Kräherwald los.

Stuttgart - Dass sich Theater der Stadt öffnen, auch jenseits von Freilichtaufführungen im Sommer, ist nicht neu. Schon seit Jahren verlassen Inszenierungsteams die Stammhäuser und bespielen statt des Bühnenraums den Stadtraum. Pionierarbeit in Stuttgart hat in dieser Hinsicht die Truppe Lokstoff geleistet, die sich in ihrer Programmatik radikal der Eroberung öffentlicher Plätze verschrieben hat.

 

Aber auch das Schauspiel des Staatstheaters schwärmt seit Jahren in die Stadt aus – und was unter dem Intendanten Hasko Weber erfolgreich begonnen hat, namentlich 2007 mit dem „Irrfelsen Stuttgart“, setzt sein rühriger Nachfolger Armin Petras fort. Auch er überflutet den Talkessel mit einer ästhetischen Stadterkundung, die freilich noch aufwendiger und partizipativer ausfällt als bei seinem Vorgänger: „Nord – ein Stadtteil dreht sich“ ist ein Mix aus dokumentarischer Recherche, inszeniertem Spiel und filmischem Dreh – und obendrein auch ein sozialkünstlerisches Projekt mit 25 Jugendlichen aus dem Stuttgarter Norden, das an sechs verschiedenen Tagen und Orten an die Öffentlichkeit geht.

Klassentausch zwischen oben und unten

Der Auftakt des Unternehmens findet morgen, 18 Uhr, in der Waldorfschule am Kräherwald statt. Dem Publikum wird dann allerdings keine Premiere im klassischen Sinn geboten, sondern eine Präsentation erster Projektergebnisse: Zwei Tage lang haben die Waldorfschule und die Rosensteinschule, eine Werkrealschule im Nordbahnhofviertel, ihre 9. Klassen getauscht – ein Experiment, das von den Theaterleuten penibel festgehalten worden ist. Auf Band haben sie den gesamten Unterricht aufgezeichnet und das rund 24-stündige Wortprotokoll dann zu einem kurzen Skript verdichtet. Sinnigerweise hat es eine Länge von 45 Schulminuten, spiegelt in konzentrierter Form den Perspektivwechsel wider und bildet zudem die Textgrundlage für den „Klassentausch“, der in der 800 Zuschauer fassenden Aula nun spielerisch nachgestellt wird. Fachleute nennen dieses Verfahren „Reenactment“ – und neben den erwähnten Kids wirken hier tatsächlich ja auch Fachleute mit: Das Skript stammt von der Jungdramatikerin Anne Habermehl, in die Lehrerrollen schlüpfen Profis aus dem Schauspiel-Ensemble.

Doch damit nicht genug. Noch komplexer wird die Schulsache nämlich, weil als weiteres Medium der Film hinzukommt. Morgen Vormittag hält eine Schülerin vor laufender Kamera eine fiktive Rede, die abends via Leinwand ins dokumentarische Geschehen eingespeist wird. Und allmählich erschließt sich jetzt auch der sprachliche Doppelsinn von „Nord – Ein Stadtteil dreht sich“, das als Multimedia-Vorhaben eben nicht nur ein urbanes Quartier in Drehung und Bewegung setzen, sondern diese Bewegung mit allen Vor- und Nachspielen auch filmisch dokumentieren will. Das Projekt ist ein Work in Progress, ein behutsamer Prozess der Stadterkundung, der seit Monaten andauert und die sechs „Drehtage“ – so heißen die Tage der Präsentation und Aktion – bei weitem überschreitet, wie die Projektmacher Malte Jelden und Lin Sternal erklären.

Die Utopie der Gerechtigkeit

Lin Sternal, 26, studiert an der Ludwigsburger Filmakademie und begleitet mit einer kleinen Crew aus Kameramann und Tonmeister die Nord-Expeditionen. Malte Jelden, 43, arbeitete sieben Jahre als Dramaturg an den Münchner Kammerspielen und hat dort schon ähnliche Projekte wie jetzt fürs hiesige Schauspiel realisiert, jedes Mal zusammen mit den Kollegen Björn Bicker und Michael Graessner. Parallel zu Stuttgart plant das Trio bereits fürs Hamburger Schauspielhaus sein nächstes Projekt, aber noch bewegen sich die gefragten Herren zwischen Killesberg und Nordbahnhof und registrieren mit Erstaunen den Abstand, der zwischen Oben und Unten herrscht. Und das meinen sie nicht nur topografisch: „Wir untersuchen Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und stellen Fragen nach Gerechtigkeit und Solidarität“, sagt der stadtsoziologisch geschulte Malte Jelden.

Und es stimmt ja: im Norden prallen die Welten von Reich und Arm so heftig aufeinander wie sonst nirgends in der Stadt. Dieses krasse Ungleichgewicht will Jelden mit seinem Team sichtbar machen und zumindest für ein paar utopische Augenblicke sogar aufheben – deshalb also zum Projektstart der Klassentausch zwischen Waldorfschule oben und Rosensteinschule unten, deshalb auch die sich ans Reenactment anschließende Diskussion zur Bildungsgerechtigkeit, einem Thema, das im Verlauf des Projekts variiert und erweitert wird.

Man dreht sich – aber nicht um den eigenen Nabel

Auf den ersten „Drehtag“ am Kräherwald folgen bis Mitte Juli vier weitere. An unterschiedlichen Orten im Norden werden dabei unter dem Obertitel „City of Youth“ unterschiedliche Aspekte beleuchtet, in der künstlerischen Form ähnlich komplex wie die facettenreiche Schulaktion. Auf einem öffentlichen Platz geht es um die Nutzung des Stadtraums, auf einem Fußballfeld um Freizeit und Sport, bei einem Spaziergang durchs Viertel um Wohnwelten – und schließlich, rund um die Moschee in der Friedhofstraße, um Religion: Am Freitag, 11. Juli, sollen sich an einer 200 Meter langen Tafel fünfhundert Menschen zum Fastenbrechen treffen.

Ein Stadtteil dreht sich, ja, gewiss, mit Kamera und allem Drum und Dran, aber wie man sieht: nicht um den eigenen Nabel. Zum Glück für den Stuttgarter Norden, der hier die Gelegenheit bekommt, mit sich selbst besser vertraut zu werden.