Vor einer Woche hat der Stuttgarter Intendant Armin Petras seinen vorzeitigen Rückzug angekündigt. Jetzt bringt der Regisseur Sebastian Hartmann den „Raub der Sabinerinnen“ ins Schauspielhaus – und macht aus dem komischen Schwank ein ernstes Statement.

Stuttgart - Die Fassade des Schauspielhauses ist eine erstklassige Werbefläche. In aller Regel zeigt das dort angebrachte Transparent in Riesenlettern das laufende Programm an. Wer sich jetzt aber auf den Weg zur jüngsten Premiere gemacht hat, sah sich mit der Ausnahme von der Regel konfrontiert. Statt eines Stücktitels war ein Statement zu lesen: „An open Society is built on playful Experimentation“ – und diese Botschaft von der auf spielerischen Experimenten aufgebauten Gesellschaft ist programmatisch zu verstehen, in diesen bewegten Stuttgarter Zeiten mehr denn je. Wenige Tage vor der Premiere hat Armin Petras seinen vorzeitigen Rückzug aus Stuttgart angekündigt, aus privaten Gründen, wie er sagt. Dass der Intendant aber auch in seinen letzten beiden Spielzeiten von der im Haus gepflegten Ästhetik nicht lassen will, macht das laute Werbebanner klar: Das Schauspiel versteht er als Trutzburg des spielerisch Sperrigen.

 

Da kommt ihm der Regisseur Sebastian Hartmann gerade recht. Als Experte des Sperrigen und Polarisierenden hat er bereits zwei Inszenierungen ins Schauspielhaus gewuchtet: „Im Stein“ nach Clemens Meyer, das er in eine genialische Wort- und Bilderorgie verwandelte, sowie „Staub“ nach Sean O’Casey, das dann doch alles Genialische vermissen ließ und zur inszenatorischen Katastrophe wurde. Gefloppt ist beim Publikum beides, das starke und das schwache Stück, wie auch Hartmann einräumt. Aber weil ihn solche Flops grämen, möchte er – und das ehrt ihn – nicht zur Tagesordnung übergehen. „Ich will meine eigene Arbeitsweise in einer neuen Bühnenarbeit reflektieren“, so der Regisseur im Programmheft zu jenem Stück, das er jetzt ins Schauspielhauses gebracht hat: „Der Raub der Sabinerinnen“.

Seitensprung ins Künstlermilieu

Gesagt, getan: Je mehr der 1884 uraufgeführte Schwank der Brüder Paul und Franz von Schönthan auf der Stuttgarter Bühne voranschreitet, desto deutlicher schält sich Hartmanns Anliegen heraus. Er denkt auf dem Theater über das Theater nach, über das Wie und Wozu des Theatermachens, das seit geraumer Zeit nicht nur in Stuttgart in der Krise steckt. Er spielt, überwiegend an der Rampe, vor dem geschlossenen Vorhang, mit Stilen und Stimmungen, mit Sprechweisen und Szeneneinfällen, er flaniert durch Genres und Epochen und setzt am Ende gar die alte Theaterwelt in Flammen, grell, bunt, ironisch – und ja, für diese Selbstbespiegelung eignet sich der „Raub der Sabinerinnen“, handelt das Stück doch von Professor Gollwitz, der seine titelgebende, in der Schublade schmorende Römertragödie von Theaterdirektor Striese aufführen lassen will. Aber da sich Hartmann mit dieser Selbstreflexion begnügt, muss er den Erkenntnisgewinn, den er hier einstreicht, an anderer Stelle mit herben Verlusten bezahlen. Der Professor entfacht die Turbulenzen in seinem Salon ja nur deshalb, weil er seinen Seitensprung ins Künstlermilieu vor seiner Frau und damit vor der Öffentlichkeit vertuschen will. Dass dem gut beleumundeten Bürger andernfalls der soziale Tod droht, lässt Hartmann nur erahnen. Und dass der „Raub der Sabinerinnen“ eine der lustigsten Komödien überhaupt ist, auch das vermittelt seine Regie nur in Ansätzen.

Zum Prinzip der Inszenierung macht Hartmann die Schmiere, also jenes Theater, das Striese in den „Sabinerinnen“ mit seiner chronisch notleidenden Wandertruppe erst noch in die Stadt bringen will. Die Schmiere: ein Jargonbegriff, der abschätzig für das künstlerisch Unzulängliche, Unsaubere und eben Verschmierte einer Aufführung benutzt wird. Und so, mit gewolltem Dilettantismus, schrill übertreibend, diese Schrillheit aber hochartifiziell in Szene setzend, zieht das neunköpfige Ensemble in die kleinstädtische Schlacht, die spielerisch eindeutig von Holger Stockhaus gewonnen wird. Er ist Striese und schillert in grüner Hose und gelber Weste wie ein Papagei, verfügt aber über einen Ausdrucksreichtum, der jenem eines Plappervogels bei weitem überlegen ist. Wenn er seine Mimik anwirft, explodiert das Gesicht; wenn er seine Gestik hochfährt, rotiert der Körper – und wenn er beim Schnürsenkelbinden stolpert und mit dem Kopf zwischen den Beinen von Rosa landet, dem schlafenden Dienstmädchen im Hause Gollwitz, dann ist das Slapstick der feinsten Sorte, das er mit Mitmachtheater paart. „Jetzt müsst ihr hau ruck rufen“, fordert Stockhaus das Publikum auf, „sonst komm ich hier nicht mehr runter.“ Und hau ruck, hau ruck setzt er Pointen, auch sprachliche, in herrlichem Sächsisch, das den Zuschauern das Lachen aus dem Hals kitzelt.

Einstürzende Theaterwelt

Holger Stockhaus macht aus Striese die Paraderolle, die sie seit mehr als hundert Jahren auch tatsächlich – ein Präzisionskomiker, der die anderen Spieler eher blass aussehen lässt. Am ehesten kann noch Birgit Unterweger mithalten, die sich im Fach der hysterischen Nymphomanin einzurichten scheint, auch jetzt als älteste Tochter des heimlich stückeschreibenden Herrn Professor. Dieser Professor wird von Peter René Lüdicke verkörpert, der allerdings zu jenem Teil der Truppe gehört, die nicht ganz so mithalten kann. Die Komik seines Gollwitz ist die bescheidene Komik eines Kinderclowns: Wenn er nicht wirr mit den Händen fuchtelt, streckt er die Zunge heraus, um sie anschließend wieder fett in die Backen zu stopfen. Bei dieser albernen Grobmotorik muss man nicht in unbändiges Lachen ausbrechen wollen, anders eben als bei der nuancierten Feinmotorik von Stockhaus, der zwei Jahre fest dem Petras-Ensemble angehörte, seitdem vor allem als Comedian im Fernsehen glänzt und bei seiner Rückkehr auf die Bühne auch die „Sabinerinnen“ leuchten lässt – wenn man ihn denn machen lässt.

Hartmann aber kürzt die Stückvorlage rabiat ein und unterbindet die Superschmiere irgendwann. Er will ja über Theater an sich nachdenken. Verschärft fängt er mit dieser Selbstbespiegelung an, nachdem er jede von ihm zitathaft entfaltete Kunstform mittels Zuspitzung als Anachronismus bloßgestellt hat: den Schwank sowieso, aber auch – zur Klavierbegleitung von Hanna Plaß – das expressionistische Theater und den damit eng verbundenen Stummfilm. Und wenn er schon dabei ist, räumt er gleich mit jedem Bühnenillusionismus auf und spielt ein Interview mit dem DDR-Dramatiker Thomas Brasch von 1982 ein. Die Gesellschaft, klagt Brasch, habe kein Bedürfnis mehr nach Kunst, sie habe Angst, ihre Entzündungen und Verletzungen dadurch nur noch tiefer zu machen. Aber gerade deshalb müsse man weiterarbeiten, folgert der Dramatiker – und es ist anzunehmen, dass der von einem skeptischen Durchhaltewillen durchdrungene Hartmann auch einem anderen Brasch-Zitat beipflichten würde: „Das Alte geht nicht und das Neue auch nicht“. Er spielt diesen Satz nicht ein, sondern öffnet im Finale den Vorhang und gibt den Blick frei auf drei antike Säulen, die in Zeitlupe am Einstürzen sind. Sie drohen nicht nur die von Striese inszenierte Römertragödie mit allen Römerdarstellern zu erschlagen, sondern auch die ganze, alte, überholte Theaterwelt.

Und wo bleibt das Neue, wenn das Alte nicht mehr funktioniert? Auf der Bühne münden die zweieinhalb Spielstunden in eine aufgekratzte Ratlosigkeit. Draußen an der Fassade aber flattert noch immer das Werbebanner, das die Grundfesten der offenen Gesellschaft beschwört. Und vermutlich lauert das Neue ja da, im spielerischen Experiment – und weil das nicht nur der Intendant Armin Petras hofft, sondern auch der Regisseur Sebastian Hartmann, können diese thematisch enorm verengten „Sabinerinnen“ auch als Statement betrachtet werden. Die Suchbewegungen im Stuttgarter Schauspiel gehen weiter.

Weitere Aufführungen am 26. November sowie am 9., 12., 20. und 30. Dezember.