Im Stuttgarter Schauspielhaus zeigt Armin Petras „Eines langen Tages Reise in die Nacht“, ein Drama von Eugene O’Neill mit Peter Kurth und Edgar Selge in den Hauptrollen. Die Patchwork-Inszenierung hat allerdings ein Problem: Ihr fehlt es an Plausibilität.

Stuttgart - Sie sind beide Schauspieler des Jahres – der eine 2014, der andere 2016 – und gehören dem Stuttgarter Ensemble an. Jetzt aber stehen sie zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne: Peter Kurthund Edgar Selge, die zusammen mit Astrid Meyerfeldt und Franziska Walser die bekanntesten Gesichter des Schauspiels und mithin Garanten für Aufmerksamkeit sind. Ablesbar ist das auch an der leicht erhöhten Promi-Dichte, für die das erste Doppelpass-Spiel der beiden Herren bei der jüngsten Premiere gesorgt hat, zumal die Nummer auch noch unter der Regie des Hausherrn selbst stattfand: Armin Petras hat Eugene O’Neills 1956 uraufgeführtes Drama „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ ins Schauspielhaus gewuchtet.

 

Groß ist dort nicht nur der Bühnenraum, sondern auch das Bühnenbild: Der Vorhang ist durch das imposant haushohe Werbebanner von Standard Oil ersetzt worden, dem 1870 von John D. Rockefeller gegründeten Erdölunternehmens, dessen Logo eine in Neonfarben brennende Fackel zeigt. Sie erinnert an die Fackel der Freiheitsstatue, an das amerikanische Versprechen vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das Millionen von Europäern auf der Suche nach Reichtum und Glück über den Atlantik gelockt hat – und nachdem das Ölfackelplakat entschwebt und die Drehbühne ihren Job angetreten hat, erscheint ein Luxusdampfer, in dessen Bauch die Auswanderer ihrem Ziel näher kommen wollten: Gewaltig ragt die Außenhaut der Titanic in die Höhe, mit Nieten und Nägeln und Bullaugen, aus denen trauriges Rostwasser läuft. Wieder einmal hat Aleksandar Denic, berühmt geworden durch seine Arbeit mit Frank Castorf, eine verschachtelte Kulisse gebaut, die robust mit Ikonen der westlichen Moderne spielt. Die Crux der Großmetaper ist nur: Ihre Symbolik geht in der Inszenierung nicht immer auf.

Der Fluch des Geizes

Dass es mit der Titanic ein böses Ende genommen hat, soll natürlich ein Licht auf das Drama und Personal werfen, mit dem es Armin Petras zu tun hat. Eugene O’Neill verortet „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ im Sommerhaus von James Tyrone, am Meer unweit von New York, im August 1912, vier Monate nach dem spektakulären Untergang des Riesendampfers. Untergehen, im Drogennebel schuldlos schuldig dem Ruin entgegentreiben, wird auch die Familie von James, die sich binnen 24 Stunden das Leben zur Hölle macht. Vater, Mutter und zwei Söhne sind heillos ineinander verstrickt, gefangen in Liebe und Hass, Vorwürfen und Rechtfertigungen, Misstrauen und Selbstbetrug. Wie in einer klassischen Tragödie tickt jeder Monolog, jeder Dialog auf den Abgrund zu, ein Rad greift ins andere und beschleunigt den Abwärtsgang. Der Nobelpreisträger des Jahres 1936 arbeitet in seinem autobiografisch geprägten Stück präzise wie ein Uhrmacher, weshalb jede Charaktereigenschaft der Familienmitglieder für den Lauf des Schicksals von einigem Gewicht ist.

Das Familienoberhaupt James ist ein Geizhals. Weil er einen teuren Arzt nicht bezahlen wollte, ließ er seine Frau Mary im Wochenbett von einem Kurpfuscher behandeln. Um Schmerzen zu betäuben, griff der Quacksalber zu Morphium, seitdem ist Mutter süchtig und setzt sich täglich einen Schuss. Marys Drogenabhängigkeit wird in der Familie zunächst gründlich beschwiegen, ebenso wie die Schwindsucht von Edmund, dem jüngeren Sohn, der nach der endlich erfolgten Diagnose in ein Sanatorium eingeliefert werden soll – in ein staatliches, das billiger ist als ein privates, wie der knausrige James erklärt. Der Fluch des irischen Geizes setzt sich fort und fort, zerstörerisch und tödlich, und hat seinen Ausdruck schon längst im Sommerhaus selbst gefunden. Es ist „eine Bruchbude von einem Sommerhaus in einem Kaff, das Mutter hasst“, schleudert Edmund dem Vater irgendwann entgegen.

Kehraus mit totem Sohn

Bruchbude? Im Schauspielhaus ist das Gegenteil zu sehen. Die Bühne dreht sich – und hinter dem eisernen Schiff kommt das herrschaftliche, aus edlem Holz gefertigte Interieur einer Villa zum Vorschein, die das Interieur der Titanic sein könnte, in der Luxusklasse, wohlgemerkt. Und die Inszenierung von Armin Petras bekommt ein Glaubwürdigkeitsproblem: Sie redet zwar vom Geiz des Familienchefs, widerlegt das Gerede aber mit der bombastischen Szenerie, die den Tyrones eine Nobelunterkunft gönnt. Und ein zweites Glaubwürdigkeitsproblem folgt umgehend, wenn James Tyrone Jr., der älteste Spross der Sippe, ins Geschehen eingreift: Peter René Lüdicke ist schlicht zu alt, um den 33-jährigen Jamie zu spielen. Er wirkt nicht wie der Sohn, sondern wie der Bruder des Vaters – mit der Folge, dass den Dialogen der beiden nie die hierarchische Spannung zuwächst, die ihnen im O’Neillschen, dem Naturalismus verpflichteten Drama zuwachsen müsste.

Zweimal klaffen Text und Bild erheblich auseinander und untergraben die Plausibilität der Psycho-Konflikte, die sich während des von Morphium und Whisky befeuerten Trips weiter zuspitzen. Am Ende, nach viel Rausch und Gebrüll, liegen die Söhne – der fehlbesetzte, obendrein nervtötend quakende Lüdicke sowie Manolo Bertling, schwindsüchtig mit geröteter Brust – als Wracks auf der gewienerten Herrschaftstreppe, während ihr im Alter von zwei Jahren gestorbener Bruder einen allerletzten Auftritt hat. Von Anfang an hat Petras diesen Eugene, gespielt von Robert Kuchenbuch, als stummen, schlammgeborenen Dämon durch die Tyrone-Familie geistern lassen. Jetzt tanzt der tote Sohn gespenstisch den Kehraus.

Um aber, endlich, auf die beiden Helden der assoziativen Patchwork-Inszenierung zu kommen, auf Selge und Kurth: Während Selge den Vater spielt, routiniert und unauffällig, spielt Kurth die Mutter. Grauer Rock, apricotfarbene Bluse, rotgeschminkter Mund, hochgesteckte Lockenhaare – und man muss sagen: Er spielt die Frau nicht tuntig, sondern differenziert, weshalb sich sein Auftritt als Mary jenseits aller Peinlichkeit vollzieht. Das ist, spielerisch gesehen, eine Leistung. Für die Inszenierung ist damit aber noch nichts gewonnen – außer erhöhter Aufmerksamkeit.