Im Stuttgarter Schauspielhaus besorgt der Regisseur Stephan Kimmig die Uraufführung des Debütromans von Martin Walser: Die „Ehen in Philippsburg“ werden zum souverän in Szene gesetzten Sittenbild einer Zeit, die noch nicht vergangen ist.

Stuttgart - Hans Beumann hat es geschafft. Am Ende der Inszenierung ist er oben in der Philippsburger Gesellschaft angelangt. Dem Aufsteiger, der als uneheliches Kind einer Kellnerin aus Kümmertshausen von ganz unten kommt, gehört deshalb das letzte Wort. „Ja“, sagt er und quetscht Überzeugungskraft in seine tonlose Stimme, „Ja“, sagt er zu dem Versprechen, das seine Verlobte Anne Volkmann ihm abnimmt: Künftig wird er nicht mehr über Umwege zu ihr in die Redaktion kommen, sondern schnell und direkt. Hand in Hand stehen Matti Krause und Sandra Gerling, spielerisch großartig, bei dem verdrucksten Ja-Wort an der Rampe und figurieren als Denkmal eines jungen Paares, dessen Fundament schon jetzt bröckelt. Sie ahnt, dass er eine Geliebte hat, er weiß, dass er auf Seitensprünge mit schönen, sinnlichen Frauen nie wird verzichten können. Das „Ja“ von Hans ist so verlogen wie alle „Ehen in Philippsburg“, die Stephan Kimmig ins Schauspielhaus bringt.

 

Mit den „Ehen in Philippsburg“, dem kaum verschlüsselten Sittenbild der Stuttgarter Society, hat 1957 die Karriere des vom Bodensee stammenden Martin Walser begonnen. Mittlerweile thront er im Olymp der deutschen Gegenwartsliteratur und beeindruckt als unangefochtener Meister mit einer bis heute nicht versiegenden Schaffenskraft. Unzählige Romane hat er seit seinem Erstling vorgelegt, dazu Theaterstücke, Hörspiele, Tagebücher und Essaybände, doch das sechzig Jahre alte Debüt gehört noch immer zu seinen stärksten Werken. Demnächst, am 24. März, wird Walser neunzig, weshalb die von Kimmig und dem Dramaturgen Jan Hein souverän zum Drama umgemodelten „Ehen in Philippsburg“ dem Jubilar gewidmet sind.

Die Bürger gehen auch über Leichen

Das ist eine noble Geste, zweifellos, doch über den Geburtstagsgruß hinaus bietet die Aufführung noch etwas anderes: Sie macht mit einem Roman bekannt, der zu gut, zu böse, zu treffsicher und zu frisch ist, um ihn im Literaturkanon vermodern zu lassen.

Worum es Walser geht, zeigt Kimmig bereits am Anfang seiner streng dem Roman und seiner Entstehungszeit verpflichteten Adaption. Über die Gardinen einer Nachkriegsvilla lässt er eine „Wochenschau“ von 1957 flimmern: Der Handel kommt in Schwung, die Goldreserven wachsen – und nachdem auch der einmillionste Teilnehmer des Fernsehens begrüßt worden ist, wirft die Kamera einen Blick in ein Schaufenster, dessen Auslagen vom „Wirtschaftswunder“ künden, das die Menschen gerade beglückt. Wie es zu diesem Sturm an Produktivität und Konsum kommen konnte, welcher Preis dafür zu zahlen war, das wiederum beleuchtet Walser mit einer Detailfülle und Scharfsicht, die ohnegleichen ist: Seine Figuren sind besessen vom Aufstieg, sie streben nach Geld, Macht, Einfluss und gehen dabei – als Kollateralschaden – auch über Leichen. Was die hyperaktiven Karrieristen dabei unterlassen, ist der Blick in die Vergangenheit: Mit tösendem Schweigen verdrängen sie das Trauma der Kriegsjahre. Der Verlust des historischen Gewissens entbindet sie von der Selbstanklage und macht sie frei für Expansionen jeglicher Art.

Diese Freiheit wird sich auch der Jungjournalist Hans Beumann nehmen. Wie alle Männer in Stuttgart, pardon, Philippsburg weitet er diese Freiheit auch aufs erotische Feld aus, aber noch ist es nicht so weit. Noch schleicht Matti Krause verstohlen und verloren, mit seinem roten Kümmertshausener Koffer in der Hand, an der Gardine mit der Wirtschaftswunder-Wochenschau vorbei. Hinter der Gardine liegt die schicke Villa der Familie Volkmann, deren Oberhaupt ihm Eintritt in die besseren Kreise der Gesellschaft verschaffen wird – und das Kernstück der Villa bildet ein von Katja Haß entworfener Großbürgersalon, der fortan als Einheitsbühne dient: ein hoher Raum mit abgerundeten Ecken und schwarzen, in Gold gefassten Säulen, der sich dreht und dreht und Schauplätze herbeizaubert. Aber egal, wo Beumann vorspricht, ob beim Chefredakteur der Tageszeitung, beim Intendanten des Rundfunks oder der Vermieterin seiner verwanzten Unterkunft: Eigens für ihn ist im Boden ein Trimm-dich-Laufband eingelassen, das ihn dazu zwingt, den Weg nach oben hetzend, hechelnd, schwitzend zurückzulegen. Renn, Beumann, renn!

Felix Klare glänzt – als öliger Frauenarzt

Aber nicht nur für den atemlosen Mann aus der Provinz, auch für die ausgeruhten Kreise der urbanen Gesellschaft findet die Regie treffende Bilder. Kimmig friert das Partyvolk, das sich bei Volkmanns trifft, in starren Tableaus ein, er verwandelt die Partygänger in Puppen, die sich dann – enteist, entgletschert – wieder jäh ins Feiern stürzen. Der Choreografie eines Fernsehballetts folgend, tanzen sie, zum lüsternen Kollektiv verschweißt, dümmlich durch den Salon, bis sie zum Bacchanal im Villenpark schreiten: Die Bürger tragen aufreizende Tangas mit rosafarbenen und mintgrünen Federboas am Popo, als Höhepunkt eines Reigens grotesker Lustbarkeiten, die Kimmig als Revuen der Doppelmoral in sein Pandämonium einbaut.

Vor diesem Hintergrund entfaltet der Regisseur das Figurenpanorama. Siebzehn Rollen für dreizehn Schauspieler – und es spricht für Kimmigs Kunst, dass er aus fast allen den richtigen Ton kitzelt. Ohne die Leistungen von Paul Grill als machtbesoffenem Politkarrieristen, Svenja Liesau als skrupelloser Geliebter oder Michael Stiller als klugem Industriestrategen schmälern zu wollen: Die kräftigsten Eindrücke hinterlassen Matti Krause und Sandra Gerling. Krause legt als Beumann schleichend die sozialen Unsicherheiten ab und mausert sich Meter um Meter zum routinierten Heuchler. Und Gerling verzehrt sich als Anne in ihrer Liebe zu Hans, denn etwas anderes als das – zarte, weinerliche, verletzliche Zuneigung – hat sie ihrem Verlobten nicht zu bieten. Als Liebesbeweis unterzieht sie sich einer Abtreibung: Gerling schildert diese Tortur mit einer Konzentration, dass die schon im Roman angelegte Drastik noch an Intensität gewinnt.

Und Felix Klare? Als Dr. Benrath, der Anne zu Kurpfuschern schickt, überzeugt auch der als Kommissar aus dem Stuttgarter „Tatort“ bekannte Spieler. Der Frauenarzt glänzt in der Schmiere seiner zynischen Rhetorik – noch eine Figur aus der Wirtschaftswunderzeit, die als Typus freilich weit darüber hinausweist. Klares öliger Benrath ist zeitgebunden und zeitenthoben zugleich, wie alle Insassen des menschlichen Bestiariums, das Martin Walser einst grandios bevölkert hat. Gut, dass Stephan Kimmig mit Respekt vor dem Autor nochmals einen Blick reingeworfen hat!