„Ein Mann mit Brille, mein letzter Wille“, ätzten halbwüchsige Mädchen, als sie noch Backfisch genannt wurden. Die Herren revanchierten sich und verschmähten „Brillenschlangen“. Sehhilfen kamen gleich nach Krücken. Heute ist die Brille im Blickfeld der Mode: als Lifestyle-Accessoire.

Stuttgart - Sie sitzt bei der Mehrheit der Deutschen auf der Nase: 62 Prozent der Bundesbürger sind laut Kuratorium Gutes Sehen Brillenträger. 1952 seien es nur 43 Prozent gewesen. Bei jungen Leuten stieg der Anteil sogar von 13 auf 26 Prozent. Wir sprechen von Korrekturbrillen, mit denen Sehschwächen ausgeglichen werden. Was ist die Ursache für die Zunahme? Ob unser aller Augen immer schlechter werden oder die Begeisterung für Brillen immer größer, wird in der Statistik nicht verraten. Sicher ist, dass die einstigen Kassengestelle wenig Freude machten, weil sie zwar von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt wurden, aber mit einer kärglichen Auswahl nur Minimalansprüche an Attraktivität erfüllten. Dagegen jetzt: Wo Brillen präsentiert werden, egal, ob im Fachgeschäft, im Kaufhaus oder in der Modeboutique, ist der Griff danach verlockend. Bloß mal schnell aufprobieren und einen prüfenden Blick in den Spiegel: Wie sehe ich aus, steht sie mir gut zu Gesicht?

 

Sie sind eckig und rund, riesig oder dezent, aus Metall, Kunststoff, Horn, Holz, Papier oder Azetat aus Baumwollfasern, kommen mittlerweile sogar aus dem 3-D-Drucker und schaffen den klaren Blick auf den Zeitgeist. Sie sind trendiges It-Piece, lernen wir von einer Expertin wie Ute Mössner, die bei Optik Kästner arbeitet. Und wer bestimmt den Trend? Natürlich die It-Girls. Namen? Da muss eine sehr junge Kollegin zu Hilfe geholt werden, die gerne Auskunft gibt: Was die Bloggerinnen Chiara Ferragni und Caroline Daur auf ihre hübschen Näschen setzen, wollen alle haben. Kim Kardashian dagegen sei als Trendsetterin schon wieder passé.

Die kleinen runden Formen kommen wieder

Der Blick schweift über die schier endlosen Variationen von Gestellen und Fassungen, bleibt an Designernamen wie Alain Mikli, Starck Eyes, Persol, Dita, Linda Farrow, Lotos, Lindberg, Mykita und natürlich auch Carrera, Gucci, Dior, Chanel und Celine hängen und hinterlässt Verwirrung. Was ist denn nun angesagt? „Die kleinen runden Formen kommen gerade verstärkt wieder“, sagt Ute Mössner und holt ein paar Beispiele aus Regal und Lade. Marke Nasenfahrrad. Praktisch ein Ableger der Urform, wie sie Conrad von Soest anno 1403 auf seinem Gemälde „Der Brillenapostel“ dargestellt hat. Nur die Sache mit den Bügeln haben sie damals noch nicht hingekriegt. Die Optikermeisterin bevorzugt eher einen aktuellen Vergleich: „Wie die Brille von John Lennon.“ Sagen wir doch: Es kommt alles wieder. Denn lange vor John Lennon war die kreisrunde Brille schon das Markenzeichen des Komikers Groucho Marx.

Auch die kapriziöse und geschwungene Schmetterlingsform, heute Cateye genannt, taucht wieder auf. Damit sah schon Liz Taylor in den fünfziger Jahren umwerfend aus. Dagegen sei die typische Nerd-Brille, groß, schwarz, eckig, gerade etwas out, verrät Frau Mössners Kollegin Corinna Lieb. Dennoch bleibe Schwarz neben Havanna, dem gefleckten Braun mit dem Schildpatt-Look, ein zeitloser Klassiker. Sonnenbrillen seien generell modischer und kämen in diesem Sommer gern in pudrigen Nude-Tönen daher. Oder mit glitzerndem Strass-Besatz.

Auch bei Brillen gibt es jedes Jahr neue Kollektionen

Genau wie in der Konfektion legen auch die Brillenhersteller viermal im Jahr neue Kollektionen auf. Und wie viele Modelle besitzt der Durchschnitts-Brillenträger? Vielleicht vier, meint man in diesem Fachgeschäft, wenn man Sonnen-und Reservebrille dazu zählt. Modisch ist damit natürlich kein Staat zu machen. Wer die Sache mit dem Lifestyleprodukt ernst nimmt, besitzt eine Kollektion passend zu Anlässen und Klamotten. Oder auch ein Fake mit „Fensterglas“. Macht jeden Langweiler interessanter, denn die Brille ist ja ein Statement, betont Corinna Lieb.

Vielleicht auch ein Bekenntnis. Mit den Holzbrillen, die im Optikerfachgeschäft 175 Grad – der Titel ist vom Durchschnittsblickwinkel der Menschen entlehnt – angeboten und im Schaufenster stilecht auf Kieferbrettern präsentiert werden, könnte man zum Beispiel seine vegane Lebenshaltung unterstreichen. „Holz ist einfach ein schönes Material“, sagt der Optikermeister Christoph Braun. Welches Holz ist dafür geeignet? „Viele Arten, das kann Kirsch genauso gut sein wie Akazie, Walnuss oder Esche.“ Noch leichter sind nur die Brillen aus Papier. Und was passiert, wenn sie aus Versehen ins Wasser fällt? „Gar nichts“, versichert Braun: „Für diese Gestelle werden mehrere Papierschichten mit Harz verbunden und am Ende mit Klarlack überzogen. Haut- und benutzerfreundlich.“

Es gibt auch Fassungen aus purem Gold

Der Spleen Fake-Brillen ist zwar ohne die Notwendigkeit geschliffener Gläser weniger kostspielig, aber mit 200 bis 500 Euro allein für die Fassungen kein billiges Vergnügen. Deutlich mehr, nämlich fast einen Tausender, muss investieren, wer sich bei Katrin Wagner (Campbell) für eine Hornbrille begeistert. „Horn ist unser Steckenpferd“, sagt die Optikermeisterin und holt aus der Schublade ein Wasserbüffelhorn: „Als reines Naturprodukt besitzt jedes Horn eine andere Färbung und Zeichnung.“ So werde jede Brille, ausgesägt aus vorbereiteten Platten, ein Unikat. Federleicht und mit perfektem Sitz, wenn sie sogar nach Maß gearbeitet ist. Dafür sollte man dem guten Stück auch regelmäßig Pflege angedeihen lassen: „Immer mit ein bisschen Glyzerin einreiben, damit das Horn nicht austrocknet“, rät Katrin Wagner. Der Stuttgarter Klientel stellt sie ein hervorragendes Zeugnis aus: „Der Schwabe ist qualitätsbewusst und bereit, für etwas Sinnvolles und Gescheites auch Geld auszugeben.“

Das darf dann auch gern noch etwas teurer sein: Gut gesichert im gläsernen Safe liegen sowohl bei Kästner wie auch bei Campbell Fassungen, die nur auf den ersten Blick nach schlichtem Metall aussehen. Sie sind aber aus purem Gold oder Platin. Gern auch mit einem Brillanten, der dezent in einer kleinen Schiene am Bügel hin und her rollt – ein rolling stone gewissermaßen – oder als Rohdiamant einen Akzent setzt. Ein Schmuckstück auf der Nase statt einem weiteren Collier, an die 10 000 Euro teuer.

Edelsteine für Brillen sind nicht neu. Denn um 1300 fertigte man in Italien Linsen aus dem Edelstein Beryll an. Daraus wurde das Wort Brille. Und Kaiser Nero soll das blutige Gemetzel der Gladiatorenkämpfe durch einen Rubin betrachtet haben. Zum Schutz gegen die gleißende Sonne, als erste Sonnenbrille. Der Mann verstand eben was von Lifestyle.