Seit 1966 gibt es in Stuttgart eine Schule für geistig Behinderte. Längst hat sich das Bildungsangebot für die Kinder weiterentwickelt. Doch nicht für alle Schüler mit Handicap ist der gemeinsame Unterricht mit Nichtbehinderten geeignet.

Stuttgart - Samuel ist zehn und geht in die vierte Klasse der Bodelschwinghschule in Stuttgart-Möhringen – einer Schule für geistig Behinderte. Dass ihr Sohn anders ist als seine beiden älteren Geschwister, merkte seine Mutter Sabine Lutz erst nach und nach. „Als er zweieinhalb war, war klar, es fehlt ihm was.“ Ärzte stellten einen genetischen Defekt fest. „Er wird gute Chancen haben, begleitet selbstständig zu sein“, hieß es. Das war für die Familie Schock und Erleichterung zugleich. „Man muss sich dieser Tatsache echt stellen“, sagt Samuels Mutter, die auch Elternbeiratsvorsitzende der Bodelschwinghschule ist. Dort, in dem geschützten Raum und der familiären Atmosphäre mit den kleinen Gruppen, sieht sie ihren Jüngsten nicht nur gut aufgehoben, sondern auch gut gefördert: „Man erkennt, dass es vorwärts geht, es stagniert nie.“ Jetzt lerne der Bub die ersten Wörter zu lesen.

 

Diese Chance hätte Samuel vor 50 Jahren nicht gehabt. Denn die erste „Sonderschule für bildungsschwache Kinder Stuttgart“ wurde erst am 18. April 1966 eröffnet – auf massiven Druck von Eltern, die sich seit 1960 über die Lebenshilfe e.V. organisierten. Es gab zunächst weder Sonderpädagogen noch einen Bildungsplan, sondern Erzieherinnen kümmerten sich um die Schüler. Dabei galt für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung erst seit dem Schuljahr 1965/66 die Schulpflicht. Viel wichtiger: von da an hatten sie überhaupt das Recht auf Schule. Vorher galten Kinder, die nie ein selbstständiges Leben würden führen können, als „schwach- oder blödsinnig“ und wurden als „bildungsunfähig“ eingestuft. Sie durften nicht einmal die Hilfsschule besuchen, sondern wurden von der Familie versorgt.

Bei der Gründung besuchen 120 Kinder die Sonderschule

Die neu gegründete Sonderschule verteilte sich auf mehrere Standorte und war im Stadtbild folglich nicht präsent. Insgesamt 120 Kinder besuchten sie – zunächst waren nur Kinder mit leichterer geistiger Behinderung zugelassen, und sauber mussten sie auch sein. Erst mit dem Bildungsplan 1983 wurden auch schwer mehrfachbehinderte Kinder aufgenommen. Inzwischen machen sie 15 Prozent der Schülerschar von 350 Kindern und Jugendlichen aus – einer konstanten Zahl.

Ende 1969 beschloss man, die für die ganze Stadt zuständige „Sonderschule für bildungsschwache Kinder“ aufzugeben und drei selbstständige Schulen für geistig Behinderte zu gründen: die Bodelschwinghschule in Möhringen, die damalige Christian-Hiller-Schule und heutige Helene-Schoettle-Schule in Bad Cannstatt und die Gustav-Werner-Schule in Zuffenhausen. Dort werden die Schüler in Kleingruppen gefördert: neun Jahre lang, dann schließt sich eine dreijährige Berufsschulpflicht an. In sogenannten berufsvorbereitenden Einrichtungen und Kooperativer Bildung und Vorbereitung werden zehn Prozent der Schüler in Zusammenarbeit mit beruflichen Schulen sogar für den allgemeinen Arbeitsmarkt fit gemacht, übrigens mit Erfolg.

Neue Chancen für Sonderschüler in Regelschulen

Im Zuge der Inklusion erhielten geistig behinderte Kinder weitere Möglichkeiten – und zwar durch die Kooperation mit allgemeinbildenden Schulen. Seit 2010 ist Stuttgart Modellregion für Inklusion. Bereits 2002 richtete die Helene-Schoettle-Schule an der Grundschule Hofen die ersten zwei Außenklassen in Stuttgart ein. Das bedeutet gemeinsamer Unterricht mit Regelklassen. Dies hat sich als Bildungsangebot bewährt. Jetzt gibt es zehn Außenklassen mit 63 Schülern. Zudem besuchten im vergangenen Schuljahr 59 geistig behinderte Schüler als Inklusionskinder eine Regelschule, unterstützt von Sonderschullehrern.

Für Samuel, sagt Sabine Lutz, komme keines dieser Modelle in Frage. „Er braucht einen geschützten Raum, eine kleine Gruppe.“ Der Bub gehe zwar auch in die Jungschar. „Aber ich kann mein Kind mit seinen Besonderheiten nicht irgendwo hinsetzen und sagen: Macht mal Inklusion.“ In der Bodelschwinghschule sei es „toll, wie individuell die auf die Kinder eingehen – ich staune oft, wie unsere Lehrer es schaffen, so unterschiedliche Kinder zu fördern.“

Sonder- oder Regelschule? Das dürfen Eltern entscheiden

Klaus Rosenfeldt, der Leiter der Helene-Schoettle-Schule, sagt: „Es ist eine Werteentscheidung, die die Eltern treffen.“ In der Sonderschule werde der Schwerpunkt stärker auf die Entwicklung von Alltags- und Lebenskompetenzen gelegt, da lernten die Schüler vor allem, sich in Stuttgart zu bewegen, selbst zu kochen und wie eine Partnerschaft gelebt werde; alle drei Schulen haben Trainingswohnungen. In den Außenklassen hingegen könnten sich die Schüler an anderen Kindern orientieren und lernen, sich in einer größeren Gruppe zurechtzufinden – „man kommt auf ganz andere Inhalte“. Man müsse eben, so Rosenfeldt, „schauen, was für jedes Kind wichtig ist – mir wäre die Durchlässigkeit wichtig“. Der Schulleiter versichert: „Ich empfinde es nicht als Ablehnung der Stammschule, wenn ein Kind in die Inklusion geschickt wird.“

Den Schulen für geistig Behinderte werden auch weiterhin die Schüler nicht ausgehen. Im Unterschied zu den leichter behinderten Förderschülern, bei denen viele Eltern trotzdem noch auf einen normalen Bildungsabschluss hofften, sei bei den G-Schülern klar, dass es nicht ohne Unterstützung gehe. Dies einzusehen sei für manche Eltern sehr schwer.

Selbstfahrer zu werden ist für Behinderte ein echtes Ziel

Doch auch geistig Behinderte können Ehrgeiz entwickeln. Samuel habe angekündigt, er wolle Selbstfahrer sein – also allein mit öffentlichen Verkehrsmitteln den Schulweg schaffen. „Wir freuen uns, dass er dieses Ziel hat“, sagt seine Mutter. „Er will ja selbstständig sein.“