Bettflüchtige, Ruhelose, Lesesüchtige können sich freuen: Vom kommenden Montag an öffnet die neue Stuttgarter Stadtbibliothek am Mailänder Platz eines ihrer Tore auch nachts.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Manchmal fielen mir die Augen, wenn kaum die Kerze ausgelöscht war, so schnell zu, dass ich keine Zeit mehr hatte zu denken: Jetzt schlafe ich ein.“ Wohl dem, der das von sich sagen kann. Läge er in seinem Bett, um noch etwas zu lesen, fielen ihm vermutlich schon während dieser berühmten Anfangssätze von Marcel Prousts Jahrhundertroman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ die Augen zu. Einmal abgesehen davon, dass man so vermutlich nie durch die gut zweitausend Seiten des ausladenden Werkes kommt, finden viele Menschen diese Form ausgeprägter Schlafbereitschaft beneidenswert. Sie quälen sich mit dem Gegenteil und finden in ihren Betten sehr rasch mehr verlorene Zeit, als ihnen lieb ist. Was also tun? Lesen. Aber was?

 

Vom kommenden Montag an könnte ein Besuch in der Bibliothek für Schlaflose bleierne Stunden im Bett ersparen. Dann nämlich öffnet die neue Stuttgarter Stadtbibliothek am Mailänder Platz eines ihrer Tore auch nachts für die Bettflüchtigen, die Ruhelosen, die Lesesüchtigen oder auch nur für jene, die für ihre „restless legs“ ein geeignetes Ziel suchen. Ihnen wird im östlichen Eingangsbereich künftig rund um die Uhr eine Art Notdienst geboten: Ein Automat hält die Wacht, im Stile jener, die auf Bahnhöfen abgestandenen Krimskrams feilbieten, nur eben viel, viel schöner – wie eigentlich alles in der neuen Bibliothek schöner als woanders ist, selbst die Schlaflosigkeit. Wer über einen gültigen Leseausweis verfügt, kann sich aus 34 verschieden Fächern frei bedienen. „Tagebuch eines Vampirs“, „Haus der Träume“, „Flamme der Dunkelheit“ lauten die Titel, kein Proust, dafür „1001 Nachtgeschichten“ oder Krimis wie „Kein Schlaf für Commissario Luciani“.

Man mag sich fragen, ob ein Krimi für überwache Nerven die geeignete Lektüre ist, ob man Insomnie, so der Fachbegriff, nicht besser mit beruhigenden Großmeistern vom Schlage Peter Handkes oder Botho Strauß’ bekämpfte. Aber mehr als der Buchstabe besticht hier der lebendige Geist, die Verspieltheit, mit der reale Bedürfnisse und Möglichkeiten miteinander verquickt werden, jenes leise, aufmunternde Augenzwinkern, das den Nutzer dieser Bibliothek auch noch dorthin begleitet, wo er sich vermutlich einsam und alleine fühlt.

Der Altersdurchschnitt – ein erfreulicher Befund

Es ist vielleicht nicht der naheliegendste Zugang, sich der neuen Bibliothek gewissermaßen von der Nachtseite her zu nähern. Aber gut ein Jahr nach der Eröffnung des Baus rundet die Bibliothek für Schlaflose die Palette der Angebote ab und stellt eine sympathische Originalität unter Beweis, die neben der architektonischen Eigenart sicher mit dafür verantwortlich ist, dass das neue Haus bei Tag brummt. Und dies beileibe nicht nur, weil in der Umgebung die Baumaschinen auf Hochtouren toben und alles tun, dass die unwirtliche Brache, in der die Bibliothek bisher als kantiger Solitär aufragte, zusehends überwuchert wird von in Windeseile emporwachsenden Betonwänden zweifelhafter Bestimmung und bisher wenigstens noch eher fragwürdigen Charmes. Dass aber mit Blick auf die monumentale Bücher-Kaaba ehemals gehegte Zukunftshoffnungen aufs Schönste aufgegangen sind, zeigt sich allein schon daran, dass die Farbe Weiß wohl das bauliche Interieur dominiert, nicht aber die Köpfe der Besucher. Die Bibliothek ist einer der wenigen Kulturorte in der Stadt, deren Altersdurchschnitt, zumindest dem Augenschein nach, in jenem umworbenen Segment deutlich unterhalb der Lebensmitte liegt – wo immer man sie ansetzt, in jedem Fall ein erfreulicher Befund.

Während man durch die weiten, von Licht und Menschen durchfluteten eindrucksvollen Geschosse aufwärts schlendert, kann man sich noch von einem zweiten überzeugen: dass hier keine Trutzburg für Gebildete entstanden ist, sondern ein öffentlicher Raum, in dem sich tummelt, was man in so ähnlicher Zusammensetzung auch auf Stuttgarts Straßen finden würde – Menschen, deren Interessen von chinesischen Kochbüchern über hermetische Lyrik bis zu Computerspielen reichen, mit allem, was dazwischen ist; Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund; vielleicht auch nur Menschen, die es genießen, sich in einem außergewöhnlichen Raum aufzuhalten und sich nebenher eben noch etwas zum Lesen suchen.

20 000 Neuanmeldungen im ersten Jahr

Von ihrem Büro im siebten Stock blickt die Hausherrin Ingrid Bussmann über die Stadt in Richtung Charlottenplatz, wo ihr früheres Domizil, das Wilhelmspalais, aus der Ferne herübergrüßt. Sie bereut den Umzug nicht. Auch wenn sie in der ersten Phase durchaus selbst ein Fall für die Bibliothek der Schlaflosen gewesen wäre, so es sie denn schon gegeben hätte. „Alles musste auf einmal passieren, das war eine sehr intensive Periode“, sagt die Direktorin, die seit 2001 die Geschicke der Stadtbücherei leitet. Es dauerte eine Weile, bis die Akzeptanzprobleme, die dem ersten erratischen Baueindruck geschuldet waren, überwunden waren. Von Bücherknast und Stammheim war die Rede. Inzwischen begibt man sich hier gerne in Haft. „Wir haben mit Ausleihzahlen von etwa zwei Millionen kalkuliert, konnten aber tatsächlich knapp drei Millionen erreichen. 20 000 Neuanmeldungen im ersten Jahr – das war weit mehr, als wir erwartet haben“, sagt Bussmann. Zwei amerikanische Websites zählen ihr Haus unter die 25 schönsten und sieben coolsten Bibliotheken der Welt.

Ihr Anliegen, eine Anlaufstelle für die Stadtgesellschaft zu sein, auch für Gruppen, die nicht zu den klassischen Nutzern gehören, sieht sie auf gutem Weg. „Je virtueller die Welt wird, desto wichtiger sind reale Orte“, sagt Bussmann. Die Schlaflosen werden ihr dieses Engagement danken.