In ganz Europa hat Claire Heliot ihr Publikum mit Raubtierdressuren in Atem gehalten. Sie trat unter anderem in Stuttgart auf und liegt auf dem Waldfriedhof begraben. Ein früherer „Abendschau“-Moderator zeigt einen Teil ihres Nachlasses.

Stuttgart - Die Zirkusluft hat er schon als kleiner Junge eingesaugt. Sein Vater war mit Kriegsbeginn gestorben, seine Mutter brachte die Familie im roten Stuttgarter Osten nur mit viel Mühe durch. Ihr kleiner Junge zog mit seinen Spielkameraden los auf den Cannstatter Wasen, sobald sich unter ihnen herumgesprochen hatte, dass Artisten und Clowns in der Stadt waren. „Wir schauten durch die Gitterstäbe hindurch ins Zelt, Eintrittskarten konnten wir uns nicht leisten“, erzählt Hans-Dieter Reichert.

 

Rund 70 Jahre später hat er sich seine kindliche Begeisterung für den Zirkus bewahrt. Reichert steht in seinem Wohnzimmer – er lebt inzwischen in Korntal – und erzählt Geschichten über jene Artisten und Dompteure, die auf den zahllosen alten Stichen und Gemälden an seinen Wänden abgebildet sind. Als er kürzlich in der Stuttgarter Zeitung eine kurze Passage über eine gewisse Claire Heliot las, meldete er sich umgehend in der Redaktion. Er besitze einen Teil ihres Nachlasses, die Dame verdiene es, ausführlicher gewürdigt zu werden, „sie war eine schöne, unerschrockene und gescheite Frau“. Claire Heliot war Ende des 19. Jahrhunderts mit ihren Löwendressuren berühmt geworden, sie trat vor Königen und Kaisern auf, starb jedoch verarmt. Ihre letzte Ruhestätte hat sie auf dem Stuttgarter Waldfriedhof gefunden.

Reichert breitet auf einem Holztisch seine Schätze aus: Postkarten zeigen Claire Heliot auf dem „afrikanischen Ruhelager“ – dabei ruht sie auf vier liegenden Löwen. Eine Dogge springt über die Gruppe der Raubtiere. Die Nummer gab es auch als Variation mit Podesten, wie das obere Bild aus Breslau zeigt. Eine weitere Aufnahme aus Paris hat Claire Heliot handschriftlich auf den 20. Februar 1899 datiert. Das Bild zeigt sie ebenfalls im Kreis ihrer Löwen, die Dompteurin trägt einen eleganten Hut, eine kunstvolle Weste, der Auftritt inmitten der kraftstrotzenden Tiere lässt sie noch verletzlicher erscheinen.

Huth dressierte ein Dutzend Berberlöwen

Hans-Dieter Reichert erzählt von ihrem Leben. Von der jungen Clara Huth, die 1866 in Halle an der Saale geboren wurde, zunächst als Tierpflegerin im Leipziger Zoo arbeitete und dort ihre Liebe zu den Raubtieren entdeckte, die ihren weiteren Lebensweg bestimmen sollte.

Berühmt wurde Clara Huth, als sie ein Dutzend Berberlöwen dressierte. Eine der Postkarten zeigt, wie sie gemeinsam mit einem Löwen, der seine Pranken auf ihren Schultern abstützt, die Manege verlässt. Das Tier trägt dabei eine Fahne im Maul. Clara Huth war in der Zirkuswelt ein Fräuleinwunder, doch schon auf der Zielgeraden des 19. Jahrhunderts kam es auf das richtige Marketing an, damit aus einem Sternchen ein Star werden konnte. So kam es zum Künstlernamen „Miss Claire Heliot“. Der amerikanisch-französische Touch brachte die Karriere der in Sachsen aufgewachsenen Frau weiter in Schwung.

Bei Auftritt schwer verletzt

Auch bei ihren Auftritten in Stuttgart. Hans-Dieter Reichert nimmt ein Buch mit grauem Umschlag aus dem Regal. In diesem Band hat die Autorin Hedwig Lohß ihre Jugenderinnerungen aus dem alten Stuttgart unter dem Titel „Durchs Guckfenster“ versammelt. Lohß schildert darin, wie sie als Mädchen auf den damals in Mode gekommenen Litfaßsäulen erstmals einen Auftritt von Claire Heliot angekündigt sah: „Sie zeigten eine junge blonde Frau, die den Besucher freundlich anlachte, inmitten von riesigen mähnenumwallten Löwen.“ Wenig später sprach die ganze Stadt über die Nummer, die in Nills Tiergarten am Herdweg stattfand, einem Vorgänger der Wilhelma.

Steiff-Löwe auf dem Nachttisch

Hedwig Lohß beschreibt, wie das Publikum „völlig im Bann dieser außergewöhnlichen Frau stand“, die in ihrem Showprogramm auch ein Löwendinner zeigte. Sie saß mit den Tieren zu Tisch, um eine lange Tafel herum. Die Löwen hockten auf derben Holzstühlen, während Claire Heliot einem Tier nach dem anderen Fleischbrocken reichte, die sie auf einer eisernen Gabel aufgespießt hatte. Hans-Dieter Reichert klappt das Buch zu. Es ist an der Zeit, dass er von den weniger glamourösen Kapiteln im Leben der Löwendompteurin spricht. Davon, wie sie bei einem Auftritt in Kopenhagen von einem der Tiere so schwer verletzt wurde, dass sie nicht mehr weiterarbeiten konnte. Davon, wie sie im Glemseck einen Rappenhof betrieb, der der Inflation zum Opfer fiel und wie sie im Zweiten Weltkrieg bei einem Luftangriff viel von ihrem Hab und Gut verlor.

Manche Geschichten kennt Hans-Dieter Reichert, der als Moderator der „Abendschau“ lange Jahre das Gesicht des Süddeutschen Rundfunks (SDR) prägte, von einem Kollegen, der Claire Heliot noch persönlich interviewt hatte. Von ihm hatte er auch die alten Karten und Notizen der Dompteurin bekommen. Claire Heliot starb 1953 in einem Altersheim im Remstal. Die Erinnerung an ihre Karriere hatte sie dabei bis zuletzt vor Augen: Auf ihrem Nachttisch saß ein kleiner Steiff-Löwe.