Erwacht aus schweren Träumen: Im Stuttgarter Theaterhaus zeigt das freie Theaterprojekt Stuttgart 22 eine sehenswerte Dostojewski-Variation in der Regie von Christof Küster.

Stuttgart - Dostojewskis „Schuld und Sühne“ heißt nicht mehr „Schuld und Sühne“. Spätestens seit der hochgelobten Neuübersetzung von Swetlana Geier heißt der epochemachende Roman auch auf Deutsch so, wie er im russischen Original, wörtlich übertragen, schon immer geheißen hat: „Verbrechen und Strafe“ – eine Titeländerung, die den im Buch beschriebenen Fall des Studenten Raskolnikow, der in Sankt Petersburg eine Pfandleiherin erschlägt, vom moralischen Feld der Religion aufs kühle Feld der Justiz verlegt. Auch auf der Theaterhaus-Bühne herrscht die präzise Nüchternheit eines Gerichtssaals: Zusammen mit seinem Theaterprojekt Stuttgart 22 unternimmt der Regisseur Christof Küster, ausgehend von einer markanten Episode aus „Verbrechen und Strafe“, eine Reise durch die Welt traumatischer Gewalterfahrungen. Der etwas sperrige Titel: „und – er erwacht. Raskolnikows Traum“.

 

Und der Mob schlägt zu

Die Bühne von Maria Martinez Peña wird von weißen Bettdecken regiert. Im Dutzend hängen sie wie Schweine an Haken, im Dutzend stapeln sie sich wie in einem Schlafsaal auf dem Boden – und dort schält sich der arme, hungrige, fiebernde Raskolnikow aus seinem schweren „Traum vom Pferd“, das von einer Bauernmeute erschlagen wird. Die Steppdecken werden zur Videoleinwand, auf der sich eine alte Mähre grobkörnig so lange schindet, bis das vorzügliche Ensemble (Boris Rosenberger, Sebastian Schäfer, Gundi-Anna Schick und Cathrin Zellmer) im Blut- und Wodkarausch wie besessen mit einer Essgabel auf die Decke einsticht, wieder und wieder, bis sie vollkommen zerfetzt ist.

Mit einfachsten Mitteln erzeugt Küster, Intendant des Studio-Theaters, größtmögliche Wirkungen. Das gilt auch dann, wenn sich aus Raskolnikows Alptraum des bestialisch getöteten Tiers die einzelnen Kapitel dieser so sinnlichen wie klugen Abhandlung schälen. Traumatherapie, Zivilcourage, Alltagsgewalt, Lynchmob – selbst der Terror der Beate Zschäpe fügt sich organisch in die mit objektiven Erkenntnissen der Wissenschaft und subjektiven Erinnerungen der Schauspieler arbeitenden Raskolnikow-Variation. Mit großer Ernsthaftigkeit und Stringenz entwirft Küster zeitgenössische und hochaktuelle Bilder von Verbrechen und Strafe. Sehenswert!

Aufführungen
am Donnerstag und Freitag.