Zum 150. Geburtstag des Buchhauses Wittwer haben wir einige Stuttgarter nach ihren ganz persönlichen Lieblingsbüchern gefragt. Von Anarchie, nervtötenden Kirchenglocken und Lektüre, bei der man sich fast in die Hosen macht.

Stuttgart - Gelesen wird immer. Bücher natürlich, aber auch Comics, Zeitungen, Beipackzettel, Anleitungen, Strafzettel und Fernsehzeitungen. Gut, insbesondere letzteres Medium war 1867 noch nicht allzu weit verbreitet. Wer damals über die Königstraße flanierte, bewunderte bestimmt das Neue wie auch das Alte Schloss, warf einen Blick auf den Bahnhof (heute das Metropol-Kino) und kehrte zweifellos ganz genüsslich im Café Marquardt ein. Also im Grunde alles so wie heute, nur ohne Selfie-Stick und Coffee-to-Go. Doch auch so schlendert der Stuttgarter 150 Jahre später immer noch gern über die Königstraße, lässt sich am Schlossplatz nieder und wagt eine Partie mit diesem komischen Kauz, der vor dem Wittwer sein Schachbrett aufgestellt hat. So ein Zufall: Ebenjener Buchladen, Stuttgarts ältester und größter, besteht auf dem Papier seit 1867, also seit exakt 150 Jahren.

 

Gut, den ersten Laden eröffnete der Gründervater Konrad Wittwer strenggenommen erst 1868 in der Eberhardstraße 55. Hier, wo heute das Hegel-Haus untergebracht ist und Menschen recht ungelenk in Richtung Oblomow stolpern, gingen die ersten Bücher über den Ladentisch, vielleicht kauften aufgeweckte Stuttgarter beim 24-jährigen Wittwer ja sogar Tolstois Frühfassung von „Krieg und Frieden“. Welche Bücher es auch waren: Es waren viele, schon bald muss er in größere Räumlichkeiten umziehen. Bald stand das Stammhaus an der Stelle, die viele Jahre das Friedrichsbau-Varieté beherbergte.

Das Stammhaus steht heute, 150 Jahre nach der Firmengründung, ein paar hundert Meter weiter an der Königstraße. Die Zeiten König Karls, sie haben also durchaus etwas mit den Zeiten Fritz Kuhns zu tun. Bücher kauft man natürlich nicht nur bei Wittwer, sondern gern und oft auch online oder in anderen Buchhandlungen. Der Charme einer Buchhandlung, ganz gleich welche, ist aber eben ungebrochen, ebenso der Geruch eines Buches. Das hat auch seine Spuren bei diesen Stuttgarter Persönlichkeiten hinterlassen, die uns zum Wittwer-Jubiläum ihre Lieblingsbücher vorstellen. Stuttgart, deine Schmöker – ein literarischer, herrlich anachronistischer und gerade deswegen ja so charmanter Streifzug durch die Stadt.

Robin Treier (Künstler, DJ, Labelbetreiber)

„Der Heros In tausend Gestalten“ von Joseph Campbell

Ich fragte mich mal: „Woher kommt der Kram mit der Heldenreise und dem Drei-Akt-Schema? Das kann nicht einer einfach erfunden haben.“ Es stellt sich heraus: die Sache ist in der Tat größer und so fundamental mit uns verknüpft wie das Phänomen, warum uns Musik etwas gibt. Ich fand allein durch Campbells Literaturverzeichnis so viel großartige Lektüre, zudem veränderten seine Funde auch jenseits von Storytelling meinen Blick auf alles nachhaltig. Wenn‘s aber um Entspannung geht: Ich gestehe, „Der Herr der Ringe“ und „Das Silmarillion“ habe ich jeweils über ein halbes Dutzend Mal gelesen. Ich liebe Tolkien.

Michael Setzer (Gitarrist bei end of green, Blogger bei kessel.tv, Pressemensch vom Keller Klub)

„Es“ von Stephen King

Als ich Teenager war, schenkte mir meine Mutter die englische Ausgabe von „Es“ – also „It“. Trotz zusätzlichem Wörterbuch auf dem Schoß habe ich mir irgendwann vor Angst fast die Hosen vollgemacht. Vorher hatte ich mich noch nie in einer Fremdsprache gefürchtet. Das hat sich angefühlt wie zum ersten Mal Black Sabbath im Dunkeln hören. Ich glaube, Bücher sind besonders beeindruckend, wenn man einen bestimmten Moment mit ihnen teilen kann. Wie so eine Lieblingsplatte. Zu „Sophia, der Tod und ich“ von Thees Uhlmann kann ich auch immer wieder super tanzen.

Walter Ercolino (Vorstand Club Kollektiv)

„2666“ von Roberto Bolaño

Unmöglich, diese 1100 Seiten auf ein paar Sätze zu reduzieren. Vielleicht: Die Suche von vier Literaturwissenschaftlern nach dem Autor Benno von Archimboldi ragt über die Erzählung, die aus fünf verschieden Teilen besteht, so weit in die Wirklichkeit hinaus, dass einen dieses Gefühl nicht mehr loslässt, auch lange nachdem man das Buch zur Seite gelegt hat, einer großen Wahrheit auf der Spur zu sein. In einer Kritik war zu lesen, das „2666“ so sei, als würde man ein Bild von Pieter Brueghel dem Älteren in Literarische übersetzten. Dem kann ich mich anschließen. Lieblingszitat: „Die Wirklichkeit ist wie ein bekiffter Zuhälter. Finden Sie nicht?“

Alicia Amatriain (Erste Solistin am Stuttgarter Ballett)

„Y de pronto cambió mi vida“ von Cristina Jimena

Der Titel heißt auf Deutsch in etwa „Und plötzlich änderte sich mein Leben“. Ich habe die Autorin, die übrigens in Stuttgart lebt, letztes Jahr kennengelernt und dieses Buch im Sommer in der Spielzeitpause gelesen. Es ist aus der Perspektive eines Hundes geschrieben, der von Spanien nach Deutschland umziehen muss und quasi einen Kulturschock erlebt. Viele Situationen, die in diesem besonderen Buch beschrieben werden, kamen mir sehr bekannt vor, muss ich sagen: Ich kam ja schon mit 14 Jahren aus San Sebastián nach Deutschland, da hat sich mein Leben auch vollkommen verändert. Eine deutsche Übersetzung ist derzeit wohl in Arbeit.

Jonas Teryuco (Sänger und Gitarrist bei Eau Rouge)

„Der Fremde“ von Albert Camus

In Zeiten, in denen es so viel unnötige Gewalt – natürlich ist Gewalt meistens unnötig – aus Glaubensgründen gibt, ist dieses Buch erstaunlich und erschreckend aktuell. Religion und Riten gehen zunehmend nur noch auf die Nerven. Und das fängt schon damit an, dass ich neben einem Kirchturm wohne, der mich jeden Tag mehrere Minuten meines Lebens zubimmelt.

Ralv Milberg (Inhaber Milberg Studios, Produzent von u.a. Die Nerven, Human Abfall, All diese Gewalt)

„Silence“ von John Cage

Ein Buch, welches vermutlich ein Leben verändert. Eine Sammlung von Vorträgen und geistreichen Abhandlungen zwischen 1939 und 1961. Hier empfehle ich vor allem, weil nach meinem Empfinden sogar „besser“ als das Original, die deutsche Übersetzung aus dem amerikanischen von Ernst Jandl, erschienen im Suhrkamp-Verlag im praktischen Jackentaschen-Format. Auch wenn Ernst Jandls Übersetzung nur einen Teil der Sammlung übernimmt, so sind die Zusammenstellung und der Umfang des Buches mit rund 160 Seiten optimal für das mobile Schmökern. Es gibt kein Ding, keine Schallplatte und auch kein anderes Buch, welches ich häufiger und aus mehr Freude und Überzeugung verschenkt habe, mittlerweile sicher an die 30 Mal. John Cages Vision einer konstruktiven Anarchie, welche auf friedliche Weise über die Kunst und Musik hinweg in alle Lebensbereiche zu dringen vermag, steckt meines Erachtens die von Anfang an zum Scheitern verurteilten Ansätze einer Postmoderne französischer Prägung à la Lyotard, Foucault und Derrida mühelos in die Tasche. Letztere waren allenfalls verbitterte Existentialisten, Cage der vermutlich einzig aufrichtige postmoderne Mensch, der je gelebt hat: „Ich bin hier, und es gibt nichts zu sagen. Wir brauchen nicht diese Stille zu fürchten. - wir könnten sie lieben.“ (Vortrag über Nichts, 1959)