Kein Schunkelzwang, tatsächlich reichlich Menschen unter 60 und VfB-Fans mit der Gesichtsfarbe Trollinger: ein Samstagabend auf dem Weindorf zwischen Lauben und Henkelgläsern.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Größer könnte der Kontrast zwischen der Eröffnungsfeier und dem Weindorf an diesem Samstagabend kaum sein. Noch Tage nach der scheinbar nie enden wollenden Eröffnungsarie trifft man in Stuttgart nachhaltig verstörte Gäste, die im Innenhof des Neuen Schlosses schwere eineinhalb Stunden zu überstehen hatten. „Man kann nur froh sein, dass die Eröffnung nicht öffentlich war“, sagt ein Marketingprofi. „Hätte man da Tourismus-Veranstalter zu Gast gehabt, die hätten ihre Angebote für das Weindorf alle storniert“, so der Fachmann weiter.

 

Wer aber an diesem Abend über das Weindorf spaziert, kann die Veranstaltung sogar ganz gut finden. Das Verhältnis Alt versus Jung ist gut, es herrscht kein Schunkelzwang, und nur an manchen Stellen strapaziert ein Akkordeon-Spieler das vom VfB strapazierte Nervenkostüm. Ja, der VfB: Es finden sich viele Splittergruppen mit unterschiedlichem emotionalen Hintergrund auf dem Weindorf: Wären Nachnamenwitze nicht verpönt, könnte man schreiben, dass die zahlreichen VfB-Fans in und vor den Lauben zorniger als der Trainer der Roten aussehen. Während man die Anhänger des VfB an der Gesichtsfarbe Trollinger erkennt, ziehen drei Junggesellinnenabschiede ihre Kreise. Eine weitere Randgruppe spricht amerikanisch gefärbtes Englisch, zwei Amerikaner probieren den „Ox to go“ im ausladenden Schwarzbrot, die Damenbegleitung scheint ob der üppigen Fleischportion eher skeptisch.

Den dritten Abend in Folge auf dem Weindorf unterwegs

Das Weindorf ist eben auch eine Fleischbeschauung auf vielen Ebenen. Marco Braun und Adiam Abraha schätzen die hohe Zahl an jungen Damen zwischen Markt- und Schillerplatz. Oder um es in der Sprache von Marco Braun zu sagen: „Hier sind lauter Waffen unterwegs, und am Ende kann man alles auf den Wein schieben.“

Braun ist bereits den dritten Abend in Folge auf dem Weindorf unterwegs. Sein Kumpel Abraha lebt mittlerweile in Frankfurt, als gebürtiger Stuttgarter lindert er sein Heimweh auf dem Weindorf und wird auch gleich linguistisch wieder geerdet. „Ich bin völlig aus der Übung, habe eben 0,25 Silvaner bestellt und als Antwort ein ,das heißt Viertele’ zu hören bekommen“, sagt der 34-Jährige. Der Portfoliomanager Abraha und der Personalberater Braun wollen nach dem Weindorf am Hans-im-Glück-Brunnen weiterfeiern. Vorglühen am Hasenwirt, um anschließend zwischen Bergamo und Platzhirsch abzuhängen – das hätte es früher nicht gegeben. Scheinbar hat das Weindorf seinen Schrecken bei Menschen unter 60 verloren. „Je tiefer man in die Lauben hineingeht, desto älter wird das Publikum. Deshalb stehen wir lieber vor den Lauben auf den Gängen“, sagt der 33-jährige Marco Braun.

Mittags alt, abends jung

„Mittags ist der Altersdurchschnitt sehr hoch, da sind die Rentner noch unter sich“, sagt ein Winzer, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Ab 17 Uhr komme es aber zu einem Publikumswechsel, da würden die Alten Feierabend machen, während die Jungen zwischen Henkelkrug und Krautschupfnudeln das Zepter übernehmen. So wie Lisa-Marie Wille und Marcia-Sophie Kropf. Die beiden Studentinnen aus Backnang haben es sich vor den Stufen zum Rathaus mit einer Traubensaftschorle bequem gemacht. „Wir kommen gerne hierher, auch nach der Uni. Die Atmosphäre ist so angenehm locker, das kennt man von Stuttgart sonst gar nicht“, sagt die 20-jährige Wille, die an der Dualen Hochschule BWL studiert. Wären bloß all die Lederhosen und Dirndl nicht, die scheinbar eine München-Sehnsucht vieler Stuttgarter verdeutlicht – man könnte es auf dem Weindorf den ganzen Abend aushalten.