Das Stuttgarter Weindorf belagert Markt- und Schillerplatz – und manche Tradition wird leise umgekrempelt.

Stuttgart - Der Dichter ist umzingelt. Sein Haupt hat er grüblerisch gesenkt, zu seinen Füßen sieht er weiße Planen, die in der Mitte spitzgieblig emporgefaltet sind. Eine Laube drückt sich gegen die Außenwand der nächsten, Friedrich Schiller sieht kaum mehr einen Pflasterstein auf dem nach ihm benannten und nun zugestellten Platz. Und erst dieses stete Summen, das an seine Ohren dringt: es beginnt schon zur Mittagszeit, ebbt nur kurzfristig ab, bevor es abends wieder anschwillt. Oberflächliches Geplapper mischt sich mit tiefgründigen Gesprächen, die Gläser klirren. Doch dann zerreißt ein Donnerschlag diesen fein gewebten Klangteppich auf dem Stuttgarter Weindorf.

 

Über dem goldenen Wetterhahn, der auf der Stiftskirche thront, ballen sich dunkle Wolken, bevor es erneut kracht. Macht sich vielleicht der Weingeist lautstark bemerkbar, weil ihm etwas nicht passt? Das Weindorf ist nicht nur ein Kassenschlager, der Jahr für Jahr Hunderttausende von Gästen in die Innenstadt lockt – angeblich beheimatet dieses Fest auch jenen Teil der schwäbischen Volksseele, dem es auf dem Volksfest zu dumpf und auf dem Sommerfest zu abgehoben ist. Die Seele ist äußerst empfindlich, und in diesem Jahr hat sie vor dem Weindorf ein bisschen vibriert, weil auf den Tischen der Wirte nach dem Willen des Veranstalters künftig lieber Weingläser mit Stiel stehen sollen und keine Henkelgläser mehr. Die seien nicht so elegant. Manche Weinzähne hat diese Weltsicht zu Tode betrübt.

Zu Schillers Füßen sitzen Johanna und Gerd Lutz aus Untertürkheim in Gesellschaft einer Flasche hiesigen Rieslings. Falsch, sie sitzen nicht, „mir hocket hier jedes Jahr“, sagt Frau Lutz, deren Mann eingerahmt ist von künstlichem Weinlaub, das an einem Holzpfosten entlangrankt. Frau Lutz kommt gerne aufs Weindorf, „weil hier net nur die Alten unter sich hocken wie bei uns zu Hause in der Wirtschaft“. Und ihr Mann, seit zwei Jahren im Ruhestand, davor in der Verwaltung tätig, findet die Henkelglasfrage überschätzt. „Wichtig isch, was im Glas isch, net, wie’s ausschaut.“ Frau Lutz schenkt nach, Herr Lutz hebt das Glas: „Bloß net verdünne!“

Mit dem Stuttgarter Weindorf verhält es sich wie mit dem Wein – es präsentiert sich als erdverbundenes Konzentrat: Riesling, Trollinger, Maultaschen, Spätzle – Württemberger Wein und schwäbisches Soulfood. Verwässerung unerwünscht! Oder etwa doch nicht? Wenn Friedrich Schiller nur einmal seinen Blick heben und hinüber in Richtung Schlossplatz schauen würde, dann könnte er die Laube von jungen Genossenschaftern sehen, die laut eigenen Angaben ihren „Wein-Lifestyle“ kommunizieren. Wer Lifestyle hat, der braucht eine Marke. Die jungen Wilden unter den Winzern haben ihre „Trollinger 2.0“ getauft, was sich nach Internet anhört und damit wohl irgendwie auf der Höhe der Zeit schwimmt.

Wer schunkelt, schwankt nicht

Vor ein paar Jahren hat sich die schwäbische Seele über diesen Internettrollinger aus dem Glas aufgeregt. Aber der Zorn ist dann nach zwei Viertele schnell wieder abgeebbt, und so ist auch nicht zu befürchten, dass das Henkelglasrevolutiönchen in diesem Jahr dazu führt, dass auch nur ein einziger Weindorfbesucher schneller von den Bierbänken aufsteht, als es unbedingt nötig wäre. Das Ehepaar Lutz hockt jedenfalls felsenfest in seiner Laube, ihr Tisch hat sich inzwischen gefüllt, Herr Lutz prostet herüber: das Glas halb voll, die Flasche halb leer. Das Gewitter murmelt nur noch in der Ferne und wird überlagert von einem Akkordeonspieler, der seine Runden macht und vor Frau Lutz zum Stehen kommt: „Komm Schatzi, sing mit!“ Wer schunkelt, schwankt nicht.

Je später der Abend, desto mächtiger wird der Weingeist auf dem Dorf, desto höher werden die Absätze der Besucherinnen. Werner Koch beißt in sein Brötchen. Soeben ist der Chef des Vereins Pro Stuttgart, der das Weindorf vermarktet, noch mit einer Gruppe von Amerikanern zusammengesessen. Den Gästen aus Atlanta hat er stolz erklärt, dass sich ein Brötchen samt roter Wurst leichter mundgerecht zusammenquetschen lasse als ein ausgewachsener amerikanischer Hamburger. Koch grinst, er erzählt, dass die Amerikaner wegen dem Weindorf nach Europa gekommen seien: „Doch, wirklich, nur wegen dem Weindorf!“ Per Mail hat er vor dem Beginn des Fests alle Wirte aufgefordert, wenigstens ein paar Speisekarten ins Englische übersetzen zu lassen. An der Imbissbude am Marktplatz wäre er hochzufrieden. Eine Rote? „Typical Stuttgarter Sausage“, verrät das Schild.

Auf dem Weindorf tritt Cannstatt auf Kentucky

Doch wie könnte man „Griebenschmalzbrot“ korrekt ins Englische übertragen? Egal, zwei Anzugträger balancieren vor dem Rathaus ihre dick bestrichenen Brote auf Papptellern durch die Reihen. Auch diese Weindorfgänger gehören dazu, genau wie die Chinesen, die sich von ihren deutschen Geschäftsfreunden in der Pianolaube die Weinkarte erklären lassen. Auf dem Weindorf trifft Cannstatt auf Kentucky, Halbhöhe auf Hallschlag. Jörg Ebermann ist zum vierten Mal dabei. In Oberboihingen ist er Koch, auf dem Weindorf das in die Laube hineinlockende Empfangskomitee: „Setzet Se sich doch!“

Ebermann erzählt von der Tradition und davon, dass man hier doch eigentlich zusammenhocke, um zu zeigen, dass man sich auf die Weinlese freue. Der 55-Jährige trägt Weste und Wohlstandsbauch, genau so muss ein Wirt ausschauen, der schon mit seinem Auftritt das Gemüt anspricht. „Gutes Publikum“ komme aufs Weindorf, die Leute trinken, aber die meisten betrinken sich nicht – Ärger gab es noch nie. Ach ja, die Speisekarte müsse er noch übersetzen lassen, bei Ebermann gibt es Apfelküchle mit Rieslingeis. Zur Henkelglasfrage hat er seine ganz eigene Meinung, weil mancher Trollinger oder Müller-Thurgau im Henkelglas einfach besser aufgehoben sei. Die Veranstalter sehen das anders, Jörg Ebermann zuckt mit den Schultern.

Der schwäbische Bruddler wird den Wutbürger überleben

Leben und leben lassen. Längst schwebt der Liberalismus wieder über allen Köpfen, nachdem die Stadt vor zwei Jahren nicht mehr wusste, wo oben und unten liegt und der Oberbürgermeister bei der Eröffnungsfeier im Alten Schloss ausgepfiffen wurde. Doch der Bruddler wird den vermeintlichen Wutbürger noch viele Jahre überleben, weil er weitaus besser zur Seele des Schwaben passt. „Der Wein isch au net billiger geworden“, schimpft der Herr am Nebentisch. Wer bruddelt, der lebt glücklicher. Das Bruddeln ist ein urschwäbisches Ventil, durch das langsam Druck abgelassen wird. So staut sich nichts auf.

Zu den Füßen des Dichters ist es spät geworden. Inzwischen ziert ein Lebkuchenherz das Dekolleté von Johanna Lutz. Der Schriftzug verrät: „Aus Liebe zu Stuttgart“. Ihr Mann hat die typische Hocketse-Position eingenommen, seine Arme breit auf den Tisch gestützt – so hockt man langfristig am sichersten. Herr Lutz ist durchaus noch aufnahmebereit, obwohl sich in seine Gesichtsfarbe dank des Weißweins ein wenig Trollinger-Rot gemischt hat. „Gerd, bisch no ansprechbar?“, frotzelt seine Frau. Natürlich ist er das, und er ist auch in der Lage, seine Meinung bezüglich der Verwässerung eines Weins an seine Verfassung anzupassen: „Ab jetzt trink I nur noch Schorle!“

Schiller blickt herab auf die Genießer

Der große Dichter verzieht keine Miene. Er steht seit 1839 auf dem Platz und ist in seinem tiefsten Inneren so multikulturell wie Stuttgart, weil er aus den Kanonenrohren türkischer Schiffe gegossen wurde, die einst vor der italienischen Küste gesunken sind. Friedrich Schiller blickt inzwischen zum 36. Mal auf das Weindorf herab, und wenn er eine feine Nase hätte, würde er den süßlichen Geruch gebrannter Mandeln wahrnehmen, der zu ihm herüberweht. Vielleicht würde ihm dann in den Sinn kommen, dass es gar nicht mehr so lange dauert, bis ihm der Weihnachtsmarkt erneut die Sicht versperrt. Dann bräuchte er ein gutes Viertele – unverdünnt.