Wie Völkermorde entstehen und wie sie künftig besser verhindert werden können. Gedanken eines Gelehrten über ein schwieriges Volk, das ständig gegen gesicherte Weisheiten rebelliert.

Berlin - Immer wenn ich in Jerusalem bin, besuche ich Yehuda. 1926 in Prag als Martin Bauer geboren, floh er mit seinen Eltern Anfang 1939 nach Palästina. Auf dem Gymnasium in Haifa fragte ihn sein Lehrer, „Wie heißt du?“, verzog ob der Antwort das Gesicht und verfügte: „Ab jetzt heißt du Yehuda!“

 

Okay, fand der Umbenannte. 1944 schloss er sich der Untergrundorganisation Palmach an, 1948 unterbrach er sein Geschichtsstudium, um im israelischen Unabhängigkeitskrieg zu kämpfen. (O-Ton: „Terroristen - das waren wir doch auch.“) 1998 hielt Yehuda Bauer die Holocaust-Gedenkrede im Bundestag.

Aufruf für einen Palästinenser-Staat

Neulich setzte er seinen Namen abermals unter den – ausschließlich – an die Juden der ganzen Welt gerichteten Aufruf für einen Palästinenserstaat. Das tat Bauer als Staatsbürger. Als Historiker spricht er durchaus von der „antizionistischen“, oft völkermörderisch gestimmten Propaganda der arabischen Seite und fügt hinzu: „Unter den jüdischen Siedlern auf der Westbank gibt es viele, die die Vertreibung der Palästinenser befürworten; dies kommt einem Genozid gleich.“ Da der Konflikt für beide Seiten kaum lösbar ist und „mögliche Aktionen Richtung Völkermord einschließt“, fragt Bauer: Wie kann die Lage entschärft werden? Entweder „durch Druck von außen, durch Schwinden der Kräfte oder den Sieg einer Seite ohne die Vernichtung der anderen“. Seine Hoffnung: Weil der palästinensisch-israelische Unfrieden „den Kampf gegen den radikalen Islam, der auch im Interesse von China und Russland liegt“ massiv erschwert, könnte der Druck zunehmen.

Nun hat mich Yehuda gebeten, für sein 2015 auch auf Deutsch erschienenes, aber unbeachtetes Buch „Wir Juden – ein widerspenstiges Volk“ zu werben. Als Autor tut man so etwas ungern, als Rezensent sollte man solche Bitten überhören.

Die Summe eines Gelehrtenlebens

Aber dieser Fall gebietet eine Ausnahme. Sprühend geschrieben, enthält das Buch die Summe eines der Holocaustforschung gewidmeten Gelehrtenlebens, eines scharfsinnigen, unorthodoxen Intellektuellen, der sich immer wieder eingemischt hat. Seit 17 Jahren beschäftigt Bauer vor allem die Frage, „wie Völkermorde entstehen und künftig besser verhindert werden können“. Im wissenschaftlichen Institut der Gedenkstätte Yad Vashem, das er bis zum Jahr 2000 leitete, ist die Verbindung der als beispiellos geltenden Shoah mit anderen Genoziden tabu. Yehuda Bauer betreibt die stets subjektive, niemals exakte Wissenschaftsdisziplin Geschichte „mit einem Blick auf die Zukunft“. Er liefert Ideen, konstruktive Gedanken, aber keine Rezepte.

So heißt es im Schlussabsatz seines wissenschaftlichen und autobiografischen Rückblicks über die Juden: „Es handelt sich um ein schwieriges Volk, das ständig gegen gesicherte Weisheiten rebelliert, sich seiner antiken Wurzeln bewusst ist, beeinflusst durch andere und andere beeinflussend, eine Herausforderung für die Welt. Ein Volk, das mich verrückt macht, das mich verzweifeln lässt, eine arrogante, oft abstoßende, wundervolle, schreckliche, aufregende, kreative, nichtgemeinschaftliche Gemeinschaft. Ich bin glücklich dazuzugehören. Es ist mein Volk, meine Nation“ (Yehuda Bauer: Wir Juden. Ein widerspenstiges Volk, Lit Verlag Berlin 2015).

http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kolumne-von-goetz-aly-der-is-kaempft- nicht-gegen-unsere-werte.4fa40049-760f-4456-972b-24f87fc65190.html www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kolumne-von-goetz-aly-zuwanderer-und- anpassungskultur.26945bf2-614b-4a42-bcaf-f77813388d75.html

Vorschau
Am kommenden Dienstag, 15. November, schreibt an dieser Stelle unsere Autorin Sibylle Krause-Burger.