Auf die Plätze, fertig, los: das Tempo, mit dem wir durchs Leben jagen müssen, droht uns aus der Bahn zu werfen. Dagegen regt sich zunehmend Widerstand.

Stuttgart - Nun also die Alternative für Deutschland. AfD. Wie kann man auf die Idee kommen, jetzt noch einen Stimmensammelverein zu gründen? Die sinkende Wahlbeteiligung weist doch auf ein erlahmendes Interesse der Bürger an derlei Politpositionen-Marketing hin. Die Piraten haben ihren Zenit schließlich auch schon überschritten, das ging ganz fix. Haben sich Parteien als Vehikel der Willensbildung womöglich schon überlebt? Die Baby-Parteien kommen ohnehin mit minimalistischer Programmatik aus, und die Positionen der erwachsenen Parteien werden immer unverbindlicher. Das ist kein Zufall, sagen Sozialwissenschaftler.

 

Ganz schön viel Pessimismus. Wieso das? Der aus Lörrach stammende, in Jena lehrende Soziologe Hartmut Rosa liefert eine Erklärung: Im Spätkapitalismus wird es immer schwieriger, das Selbstverwirklichungsversprechen der Aufklärung einzulösen, meint er. Die Ursache sei, dass gesellschaftliche Dynamik von unterschiedlich gerichteten Kräften angetrieben wird. Und die verschieben sich in ihrem Verhältnis zueinander. Der „angsterzeugende Aspekt des Systems“ gewinnt die Oberhand, glaubt Rosa. Konkurrenzkämpfe verschärfen sich, die Gefahr abzustürzen wächst, die Fallhöhe für Strauchelnde nimmt zu. Andererseits verblasse der „Verheißungsaspekt“ des Kapitalismus; die Hoffnung schwindet, eine sichere Position erlangen zu können, die eine selbstbestimmte, unabhängige Lebensgestaltung ermöglicht.

Aufstiegsstreben als Kampf ums Bestehen

Für Rosa ergibt sich diese Folgerung aus seinen zeitsoziologischen Studien. Er hat herausgearbeitet, dass und warum sich das Leben beschleunigt, und was das für die Gesellschaft bedeutet. In der Moderne hat das Wandlungstempo eine Art „Schallmauer“ durchbrochen und sorgt für Umwälzungen schon innerhalb einer Generation. Einst haben sich Eltern gewünscht, ihren Kindern möge es einmal besser gehen. Sie sollten vielleicht studieren und einen angesehenen Beruf erlangen, um Anerkennung, Status und Sicherheit zu erreichen und damit die Chance zur Selbstverwirklichung.

In der Spätmoderne ist aus dem epochalen Aufstiegsstreben ein ununterbrochener Kampf ums Bestehen geworden. Entscheidend ist nicht mehr die Position, die man hat, sondern die Performanz, die man liefert. So wird zum Beispiel das Einkommen immer seltener durch eindeutige Tarif- oder Besoldungsgruppen determiniert, sondern über Leistungskriterien wie Umsatz, Einschaltquoten oder Fehlerhäufigkeiten regelmäßig neu bestimmt. „Der Zwang, sich stets von Neuem und in allen Sphären des sozialen Lebens bewähren zu müssen, weil es keine Sicherheit über erreichte Niveaus gibt, untergräbt das Vertrauen darauf, sein Leben ,im Griff‘ zu haben und daher selbstbestimmt gestalten zu können“, fasst Rosa zusammen.

Die Moderne führt ins Mittelalter zurück

Die Freiheit, zwischen Telefon-, Strom- und Krankenversicherungstarifen sowie Geldanlage-, Leasing- und Reiseversicherungskonditionen auswählen zu können, sollen oder müssen, dieser Umstand lässt immer weniger Raum für konzeptionelle Gestaltungsfreiheit. „Wir müssen immer schneller rennen, um auf dem Laufenden zu bleiben“, beschreibt Rosa das Phänomen. Denn was im Moment optimal ist, kann im nächsten bereits ein Wettbewerbsnachteil sein. Wer zahlt um 15.30 Uhr schon gerne 1,45 Euro für den Liter Diesel, wenn der um 19.30 Uhr nur noch 1,39 Euro kostet? Und so beschleunigt sich das System immer mehr. Man ist zwar frei, aber es ist mehr und mehr die Freiheit, sich am Einstellrad der Digitalkamera zwischen Makro- und Panoramamodus zu entscheiden, dabei aber das Gefühl nicht los zu werden, die Maschine gar nicht zu beherrschen. Und der nächste Technologieschub steht bereits bevor.

Es ist schon bemerkenswert, dass uns die Spätmoderne ein Stück weit zurück führt ins Mittelalter, wo die Bewältigung des Alltags den Großteil der Zeit beansprucht hat – auch wenn der Alltag heute ganz anders aussieht als damals. Von Freizeitgesellschaft wie in den 1980er Jahren spricht heute niemand mehr. Kaum jemand ist in der Situation, Zeit totschlagen zu müssen; wer das tut, ist bereits sozial ausgegrenzt. Interessant ist aber auch die Frage, wie es mit unseren kulturellen, sozialen und demokratischen Errungenschaften weitergeht, die ja nicht zuletzt die Trennung von fremdbestimmter Arbeits- und selbstbestimmter Freizeit zur Voraussetzung hatten? Wem wird man solche Errungenschaften dereinst zu verdanken haben, wenn sich die Arbeitskraft im Prozess von Produktion und Reproduktion erschöpft? Etwa denen, die ihr Kapital für sich arbeiten lassen können? Ist aber das dann noch Demokratie oder schon wieder eine neue Art der Aristokratie?

Wann wird das Episoden-Tiki-Taka gebremst?

Position oder Performanz – über beides urteilt die äußere Wahrnehmung. Dabei wirkt die gesellschaftliche Beschleunigung natürlich auch auf diese Wahrnehmung. Was einst Status oder Position ausmachten, wer in einer „guten Stellung“ war, darüber herrschte lange unangefochtener Konsens: ein Geschäftsführer, ein Professor, ein Meister, eine Ärztin. Was indes eine gute Performance ist, ergibt sich unter sich stets verändernden Bedingungen immer neu. Auch öffentliche Wahrnehmung ist im Fluss. Entsprechend herrscht nicht nur ein permanenter Kampf um ihre Ausformung, sondern – wenn sie ausgeformt ist – auch um die Deutungshoheit darüber. Das hat Folgen: Eine Nachricht ist immer weniger etwas, wonach man sich richten kann. Dann muss man sich aber auch nicht wundern, wenn sich niemand mehr danach richtet. Standards verlieren ihre Gültigkeit.

Man darf die These wagen, dass den Gegenwarts-Menschen das auf die Nerven geht. Aber können sie die Hoffnung haben, dass irgendwann das Episoden-Tiki-Taka gebremst wird? Man darf auch die These wagen, dass der wachsende antikapitalistische Impuls und das wachsende Misstrauen gegenüber den „Oberen“ auch deshalb lauter vorgetragen wird und Wohlstandsmilieus in Halbhöhenlagen erfasst, weil dort die Kosten jenes Verheißungsverlustes am höchsten sind. Die aufstrebende Mittelschicht fühlt sich in ihrer kulturellen Identität am stärksten bedroht und ist damit die zentrale Zielscheibe von Politmarketing. Das erklärt die muntere Parteiengenese entlang aktueller Themen wie Netz- oder Eurokritizismus. Soziale Gerechtigkeit ist für jene Kreise nicht so wichtig. Um auf diesem Feld voranzukommen, braucht man auch keine neuen Parteien.

Kretschmann ist das verkörperte Entschleunigungsprogramm

Es sei aber noch eine These gewagt: Der antikapitalistische Impuls wider die entfesselte Beschleunigung hat gerade in Baden-Württemberg bereits gewirkt. Er hat vor zwei Jahren einen bis dahin undenkbaren Regierungswechsel herbei geführt. Das Experiment läuft aus Sicht der Akzelerationskritiker gar nicht so übel. Mit dem Grünen Winfried Kretschmann regiert einer das Land, der in seinem ganzen Habitus ein Entschleunigungsprogramm verkörpert. Das stellt die Velozitätsgeschädigten zunächst ruhig. Eine Erfolgsgarantie gibt es aber keineswegs, nicht für den gemächlichen Kretschmann, nicht für die Grünen und schon gar nicht für die Beschleunigungsopfer. Denn vielleicht verebbt das ganze Unbehagen auch wieder, weil die nächste Generation es gar nicht anders kennt, sich längst auf den Hochfrequenz-Lifestyle eingestellt hat und Aristokraten sexy findet. Das Leben bestraft eben manchmal auch jene, die zu früh kommen.