Kurz mal einen Arzttermin vom Dienstrechner aus vereinbaren? Im Südwesten ist das an vielen Arbeitsplätzen kaum möglich – hier geht der Trend zum Internetverbot. Unterdessen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die totale Kontrolle privater Internetchats für nicht rechtens erklärt.

Geld/Arbeit: Daniel Gräfe (dag)

Stuttgart - Inwieweit ist die private Nutzung des Internets im Büro erlaubt? Und wie weit dürfen Unternehmen gehen, wenn sie ein Verbot überwachen wollen? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am Dienstag mit einem Urteil die Debatte, die auch in vielen Firmen Baden-Württembergs geführt wird, befeuert. Demnach dürfen Unternehmen private Internetchats ihrer Mitarbeiter nicht uneingeschränkt überwachen. Die Richter verurteilten Rumänien wegen eines Verstoßes gegen das Recht auf Privatsphäre. Das Urteil gilt direkt nur für Rumänien. Als Mitglied des Europarats muss sich aber auch Deutschland daran halten.

 

Geklagt hatte ein Mann, der entlassen worden war, weil er über den Internetzugang des Arbeitgebers Nachrichten an seinen Bruder und seine Verlobte verschickt hatte. Es ging darin um seine Gesundheit und sein Sexualleben. Das Unternehmen hatte die Unterhaltung aufgezeichnet, ohne den Mitarbeiter über die Möglichkeit einer solchen Kontrolle vorab zu informieren. Aus Sicht der Straßburger Richter geht das zu weit. Nach dem Urteil soll es Unternehmen zwar möglich bleiben, die Kommunikation von Mitarbeitern zu überprüfen. Allerdings müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, die der Gerichtshof erstmals festlegte. So muss über die Möglichkeit und das Ausmaß von Kontrollen vorab informiert werden. Außerdem ist ein legitimer Grund für die Überwachung nötig. Mildere Kontrollmaßnahmen und weniger einschneidende Konsequenzen als etwa eine Kündigung müssen geprüft werden.

Tatsächlich werden im Südwesten immer mehr Beschäftigte wegen privater Nutzung des Internets abgemahnt oder gar gekündigt, weil dies laut Betriebsvereinbarungen verboten ist und aufgeflogen war – Tendenz weiter steigend. Das hatte Anfang des Jahres eine Umfrage dieser Zeitung bei den Arbeitsgerichten in Baden-Württemberg ergeben. Deshalb empfehlen Arbeitsrechtler Schulungen zum Umgang mit dem Internet und vor allem Betriebsvereinbarungen. Auch die Handwerkskammer Region Stuttgart hat einen Leitfaden zu Arbeitsfragen für ihre Mitgliedsbetriebe parat. Man spreche sich für eine eher restriktive Variante aus, heißt es: „Der Arbeitgeber bezahlt schließlich nicht dafür, dass private Angelegenheiten erledigt werden.“

Die meisten Verbände raten zu einem Verbot der privaten Nutzung

Damit liegt die Handwerkskammer im Trend, wie eine Umfrage dieser Zeitung bei einigen Konzernen und großen Verbänden in Baden-Württemberg ergibt. So rät der Arbeitgeberverband Südwestmetall mit seinen rund tausend Mitgliedsbetrieben „eher davon ab“, die Privatnutzung des Internets zuzulassen. Der pragmatische Grund: „Der Arbeitgeber darf dann nicht mehr ohne weiteres etwa bei Abwesenheit des Arbeitnehmers auf dienstliche E-Mails zugreifen, wenn diese sich nicht eindeutig identifizieren und von privaten trennen lassen.“ Eine „tendenziell strikte Linie“, verfolgt auch der Handelsverband Baden-Württemberg, der die Interessen von über 10 000 Handelsunternehmen in Baden-Württemberg vertritt: „Das heißt: kein Handy und kein Internet während der Arbeitszeit“, sagt Hauptgeschäftsführerin Sabine Hagmann. Schließlich sei – um eventuellen Missbrauch zu vermeiden – leider nur ein komplettes Verbot kontrollier- und beherrschbar. Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) in Baden-Württemberg, dem rund 800 Unternehmen angehören, spricht ebenfalls von einer „Tendenz zum Ausschluss der Privatnutzung“ des Internets bei den Mitgliedsbetrieben. Fabian Seus, zuständig für den Bereich Arbeitsrecht, räumt aber ein: „Problematisch ist naturgemäß das Nachhalten der Einhaltung der Regelungen, das heißt die Kontrolle – hier ergeben sich zum Teil rechtliche, aber auch rein menschliche Konflikte.“

Die Verbotsgegner kritisieren die zu starke Kontrolle

Deshalb halten Kritiker Verbote wie diese für nicht mehr zeitgemäß – und zudem für das Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer kontraproduktiv. „In der heutigen Zeit kategorisch etwas zu verbieten, so dass sogar ein Anlass zur Kündigung entsteht, passt nicht in die Zeit“, sagt der Gesellschafts- und Zukunftsforscher Horst Opaschowski, der sich viel mit der Stellung des Arbeitnehmers in der Gesellschaft beschäftigt hat. Jeder Mitarbeiter müsse einen Vertrauensvorschuss genießen, so Opaschowski. „Unser Leitbild muss der selbstständige Unternehmer am Arbeitsplatz sein, auf den man sich verlassen kann.“

Wohl auch deshalb haben die beiden größten Unternehmen im Land großzügigere Vereinbarungen getroffen. Daimler-Mitarbeiter dürfen das Internet und soziale Medien auch privat während der Arbeitszeit innerhalb definierter Grenzen nutzen – insofern es die „normale Arbeit“ nicht behindere, heißt es. Bosch betont, das Internet und Social Media gehörten zum Unternehmen dazu. Schließlich betreibe man im Konzern ein eigenes soziales Netzwerk – Bosch Connect genannt. Die Mitarbeiter dürften während der Arbeitszeit auch privat ins Internet und geschäftliche E-Mail-Accounts privat nutzen, sagt ein Sprecher – um zum Beispiel kurz eine Banküberweisung vorzunehmen. „Wir wollen, dass die Mitarbeiter Beruf und Privatleben vereinbaren können.“