Die Britin Zadie Smith erzählt in „Swing Time“ von zwei Freundinnen aus der Sozialsiedlung, die in Grundschultagen noch glauben, das Tanzen werde ihnen die Tür in ein besseres Leben öffnen. Es kommt ein wenig anders.

Stuttgart - Menschen sind Gefangene sozialer Statistiken und doch nie ganz mit ihrem Klischee identisch. Literatur untersucht, feiert vielleicht sogar, wo jemand dem Prägedruck der sozialen Normierung davonschlüpfen und seine eigene kleine Verrücktheit etablieren kann. In Zadie Smiths Roman „Swing Time“ lässt uns so ein Schlenker ins Besondere früh staunen. Zwei dunkelhäutige Londoner Grundschulmädchen aus der Sozialsiedlung, beide tanzbegeistert, schauen sich da mit Vorliebe alte Hollywood-Musicals an, am liebsten Filme mit Fred Astaire.

 

Es ist der scheinbar schwerelose männliche weiße Tänzer, der sie fasziniert. Für seine Partnerinnen wie Ginger Rogers haben sie Blicke nur nebenbei, und die Klassenabstufungen und der Rassismus, die Verdrängung der dunkelhäutigen Figuren in dienende Funktionen am Rand einer weißen Welt, fallen ihnen noch nicht als Anlass zur Empörung auf. Im Moment, in dem sie sich über die eigenen Verhältnisse und Beschränkungen hinausträumen, also einen Prozess der Selbstermächtigung beginnen, träumen sie sich in etwas hinein, das sie nie werden können. Sie bereiten also auch ein grundsätzliches Scheitern vor.

Zadie Smith, 1975 im eher ärmeren Nordwesten Londons als Tochter einer jamaikanischen Mutter und eines britischen Vaters geboren, erweist sich in „Swing Time“ wieder einmal als Meisterin der quicklebendigen Aufbereitung von Diskursen über Gender und Ethnien. Sie kommt nicht mit Theorien und Erkenntnissen daher, um dann Laborversuche dazu ablaufen zu lassen, sie imaginiert Figuren in sehr konkreten Spannungsfeldern und entwickelt mit solidarischer Hoffnung und nüchterner Chancenabwägung, was denen dort widerfahren wird: vom Aufstellen feiner Härchen bis hin zu schweren Verbrennungen.

Bloß kein Laborversuch

Zwei Leben vergleichend durch den Roman zu führen, diese Technik nutzt die im Jahr 2000 dank ihres Debüts „Zähne zeigen“ sofort als Hoffnung einer sowohl klugen wie zugänglichen Erzählliteratur erkannte Smith oft. Bislang aber hat sie ihre Figuren als Erzählerin von außen begleitet. Nun schafft sie erstmals ein Ungleichgewicht, indem sie einer Erzählerin die Zügel übergibt. Tracey, das Kind eines nur gelegentlich bedrohlich auftauchenden dunkelhäutigen Vaters und einer über die Beschränkungen ihres Milieus kaum je hinausblickenden weißen Mutter, wird von außen geschildert. Ihre Freundin, die namenlos bleibende Erzählerin, kann uns die spontane Freundschaft, die Krisen und Spiele, die Faszinationen und die wachsende Entfremdung der beiden, das Auseinanderentwickeln der Lebenswelten, ganz aus ihrer Sicht schildern.

Diese Macht der Beschreibung scheint gut zur von Anfang an vorhandenen Ungleichheit zu passen. Die Erzählerin wohnt zwar direkt gegenüber von Tracey, aber nicht wie die in einem der schlecht angesehenen Hochhäuser, sondern in einem respektableren kleineren Bau: Auch unter den Ärmeren gibt es unübersehbare Prestigeabstufungen. Vor allem aber ist die Familie der Erzählerin eine der wenigen nach außen hin intakten. Der weiße Vater und die dunkelhäutige Mutter leben noch zusammen. Und obwohl der Vater aus einem Gangsterumfeld stammt, lebt er bürgerliche Werte und ist zuhause eine verlässliche, aber eher schüchterne Präsenz. Dominant ist die Mutter, eine intelligente, eigensinnige, durchsetzungsfähige Frau, die sich unter klarer Verachtung aller Milieuregeln zur Intellektuellen entwickelt, ein emanzipatorischer aber auch egoistischer Selbsterfindungsprozess, wie er in Traceys Umfeld nicht einmal in Worte zu fassen wäre.

Die Erzählerin, früh von der Mutter ermutigt, über das Naheliegende hinauszublicken, alles für veränderbar und sich selbst für eine Person auf Augenhöhe mit den Besten zu halten, scheint also prädestiniert zum Aufstieg, so wie Tracey zum Scheitern. Aber wir lernen die chancenreiche Freundin gleich zu Beginn des Romans als Gescheiterte kennen, als Frau, deren Leben sich gerade in einer schweren Krise zu befinden scheint. Man bekommt bei den ersten Sätzen ein Gefühl von Totalabsturz, auch wenn noch Wohlstandskulissen die Gescheiterte umstellen.

Wie sich Gehirn und Herz entzünden lassen

So präzise und ergreifend, so gesättigt mit den Moden und Attitüden von damals Smith die Pubertät der Freundinnen auch zeigt, sie denkt sich eine andere Wendung der Entfremdung aus als man vermuten würde. Die Erzählerin wird traumhaft weit aus Londons Kleine-Leute-Welt hinausgeführt, wird die persönliche Assistentin eines an Madonna angelehnten Popsuperstars namens Aimee. In vielen Kritiken werden die langen Passagen des Lebens in Aimees Diensten, die Zeichnung des Superstarlebens, wie wir es aus den Klatschnachrichten kennen, als Schwäche von „Swing Time“ benannt.

Aber Smith inszeniert durchdacht die Begegnung realer Menschen mit dem größten, aber fauligen Freiheitstraum ihrer Gesellschaft. Die Traumwelt ist ein emotionaler und moralischer Slum, eine Glücksvernichtungszone. Ein stimmiges Leben müsste aus dem herauswachsen, was Tracey und die Erzählerin anfangs haben, kann kein Ergebnis eines Katapultschnalzers in andere Sphären sein. Aber wie schwierig das mit all den Konflikten und Bruchlinien und Defiziten dieser Welt wäre, lässt uns der Roman gut begreifen.

Er ist trotzdem nicht negativ, schon gar nicht depressiv. Er steckt voll Schwärmereien der Mädchen und jungen Frauen, voll wechselnder Enthusiamsen, er führt vor, wie sich Gehirne, Herzen und Körper noch entzünden lassen in Kindheit und Jugend – von Michael Jacksons Video „Thriller“ etwa. Smith meint das ganz ernst: Das momentane Glück zumindest ist auch eine Sache indidivueller Aneignung, man kann es in alten Filmen mit Fred Astaire finden, auch als nachgeborenes dunkelhäutiges Mädchen, das damals nie und nimmer hätte mittanzen dürfen.