In zwei Jahren gibt das fusionierte SWR-Symphonieorchester sein erstes Konzert. Aber wer soll es dirigieren? Was für ein Typus Musiker wird gebraucht? Der Dirigent muss auf jeden Fall gleich mehrere Qualitäten auf sich vereinen. 

Stuttgart - Im April 1982 dirigierte Leonard Bernstein zum ersten und zum letzten Mal das BBC Symphony Orchestra. Davor hatte er in der britischen Hauptstadt nur mit dem London Symphony Orchestra gearbeitet. Das Debüt bei dem 1930 gegründeten Rundfunkorchester beginnt denkbar ungünstig. Den Verkehr der Metropole grob unterschätzend, hat sich der 63-Jährige viel zu spät auf den Weg zur ersten Probe gemacht. Endlich angekommen, unterbricht er lachend, aber brüsk die freundlichen Empfangsworte des Konzertmeisters Rodney Friend und hebt den Taktstock. Auf dem Programm Edward Elgars „Enigma-Variations“, ein nationales Musikheiligtum, das der US-Amerikaner unbeschwert ganz anders angeht als englisch-üblich.

 

Bernstein, flamboyant die Lesebrille in der Linken, kaum einen Blick in die Partitur verschwendend – wie alles, was er dirigiert, hat er sich das Werk einverleibt und lebt es, als sei es von ihm selbst komponiert –, weiß genau, was er will. Etwa die elfte Variation wirbelnd virtuos-rasch: ein „unmögliches Tempo“, wie sich der Konzertmeister Friend beklagt. Bernstein pariert mit whiskeygegerbter Stimme (und, obgleich hellwach, wohl mit ein paar Prozenten Restalkohol im hitzigen Blut), Friend solle den „Hauptmann“ geben und seine Truppen in die Schlacht führen. Nicht witzig findet die Trompetengruppe, dass sich der merklich kühler werdende Bernstein in eine Stelle verbeißt, am Klang tüftelt, sie mehrmals eine Passage allein blasen lässt. Ein Probenmitschnitt hält das bitter-ironisch hingemurmelte „wir sind einfach unmusikalisch“ eines Trompeters fest.

Ein Orchestererzieher wird in Stuttgart gebraucht

Selbst bei einem Genie wie Bernstein ging es nicht ohne Kontroversen ab, und seine Interpretation der berühmten „Nimrod“-Variation, doppelt so langsam wie gewohnt, wurde nach dem Konzert in der Royal Festival Hall von der Londoner Presse stark kritisiert. Und doch zeigt das Probendokument auf faszinierende Weise, wie eine Persönlichkeit innerhalb weniger Stunden eine Hundertschaft individueller Musiker dazu bringt, als Einheit zu agieren, wie Bernstein einem ihm fremden Orchester (vorübergehend) einen individuellen Klang zu geben vermag – selbst wenn die Chemie nicht stimmt. Früher nannte man solche Dirigenten Orchestererzieher; und wenn auch das Spielniveau heutzutage immer höher wird – sie werden gebraucht. Zum Beispiel demnächst einer in Stuttgart.

Genau in zwei Jahren, am 22. September 2016 soll ein Fusionsorchester, gebildet aus dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR und dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, in der Stuttgarter Liederhalle sein erstes Konzert geben. Es wird ein gewöhnlicher Wochentag sein, und man kann nur hoffen, den Verantwortlichen des Südwestrundfunks wird für diesen Donnerstag etwas einfallen, damit sich mit dem bemerkenswerten Termin das Gefühl von Aufbruch verbindet. Trotz der traurigen Tatsache, dass zwei Traditionsorchester an diesem Tag endgültig Historie sein werden, darf das keine altbackene Veranstaltung werden, die dem nach alter Orthografie geschriebenen Namen des neuen Ensembles gleicht: SWR-Symphonieorchester – da waren die alten SWR-Sinfonieorchester viel weiter.

Ein Chefdirigent wird gesucht

Ein halbwegs namhafter Dirigent wird sich für das Geburtskonzert finden, doch es wird nicht ein Chefdirigent sein. Aus SWR-Kreisen heißt es, dass Johannes Bultmann, der künstlerische Gesamtleiter der Klangkörper und Festivals beim Südwestrundfunk, mit ziemlicher Sicherheit nicht so bald einen parat hat. Bultmann vertröstet auf die Vorstellung seiner Pläne und Konzepte (und Personalien?) Anfang 2016 (sic!). Das SWR-Symphonieorchester ohne Chefdirigent oder – unwahrscheinlicher – Chefdirigentin in der ersten Saison: einige Musiker halten das nicht unbedingt für einen Malus. Sie wissen, wie Bultmann, dass es nicht viele bedeutende Dirigenten gibt, die sich um einen Job reißen, bei dem sie als Sozialarbeiter gefordert sind.

Tief sind die Gräben, die sich beim Kampf gegen die Fusion zwischen den SWR-Orchestern aufgetan haben. Auch wenn einzelne Musiker und Instrumentalgruppen untereinander in Kontakt sind: die Frustration über die Abwicklung, besonders bei den Badener Musikern, die künftig nach Stuttgart, wo das Orchester seinen Sitz haben wird, ziehen oder pendeln müssen, ist nachvollziehbar groß.

In den ersten Jahren nach 2016 wird es nicht allein um Musik gehen. Wer also, der arriviert, international bekannt, gar Starqualitäten besitzt, ließe sich finden, so einen Fusionsbalg zu übernehmen? Zwar könnte es reizvoll sein, ein Orchester, das keine Tradition hat, zu formen, aber das ist zeitaufwendig. Und es gibt sie kaum mehr, die Orchestertrainer vom Schlage eines Toscanini, Fritz Reiner, George Szell, Celibidache und heute Marek Janowski.

Auch Klassikstars werben mit Muskeln, Tattoos und Busen

2014 ist ein schlechtes, ein trauriges Jahre für die Musik: Gerd Albrecht, Claudio Abbado, Rafael Frühbeck de Burgos, Lorin Maazel starben, zum Teil sehr geschätzte Dirigenten. Ohne selbst die Vorgänger zu erreichen, waren sie Nachfolger einer Generation, die letztmals die Größe der Zunft repräsentierte: Karajan, Solti, Bernstein. Die Nachnachfolger agieren in einer instabilen Gegenwart: bröckelnde Zuschauerzahlen, desinteressierte Politiker, weniger Donatoren, die für die sich nicht selbst tragenden Institutionen der klassischen Musik lebensnotwendig sind. Dazu eine hysterisch aufgeheizte Musikindustrie, die das Marketing ihrer Stars nicht mehr auf musikalische Qualität gründet, sondern deren Muskeln, Tattoos – diese niedliche Schildkröte auf der Schulter des Taktstockvirtuosen Yannick Nézet-Séguin – und Busen-Qualitäten: „Ich spiele, solange mein Dekolleté vorzeigbar ist“, verkündete die Geigerin Anne-Sophie Mutter kürzlich.

Mit anderen Worten, der Dirigentenmarkt ist knapper als knapp, da ist selbst mit viel Geld, das der Südwestrundfunk angeblich bereit ist, in die Hand zu nehmen, kein Engagement einfach zu bewerkstelligen. Kommt hinzu das unerfüllbare Profil: ein Musiker, der für die Avantgarde brennt (Donaueschingen! Eclat-Festival in Stuttgart!), der gleichzeitig mit Brahms, Tschaikowsky, Mahler oder Schostakowitsch die Vollfettstufe fürs internationale Tourneegeschäft bedient, der nicht jämmerlich versagt, wenn er eine Haydn-Sinfonie dirigiert, der dramaturgisch denkt, Nischenneugier mitbringt, die klassische Moderne von Strawinsky bis Boulez mit links aufführt, ein Klangprofil entwickelt, der ein Orchester moderiert, Musiker versöhnt, und schließlich marketingtauglich jung und präsentabel ist, also nicht hässlich ist wie Rameaus Sumpfnymphe Platée.

Vor diesem Hintergrund erübrigt sich ein Ventilieren der üblichen Namen, heißen sie Andris Nelsons, Paavo Järvi, Kirill Petrenko (attraktiv, doch alle eine Nummer zu groß für den SWR, außerdem gebunden) oder Gustavo Dudamel, Teodor Currentzis, Vladimir Jurowski, Jonathan Nott . . . Bewerbungen bitte an: Dr. Johannes Bultmann, Südwestrundfunk, Hans-Bredow-Straße, 76530 Baden-Baden.