Der jährlich begangene Internationale Tag der Pressefreiheit am 3. Mai soll auf die Bedeutung freier Berichterstattung und auf Verletzungen der Pressefreiheit aufmerksam machen. Warum das in diesem Jahr dringend notwendig ist, erklärt der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen.

Stuttgart - Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen, über die Situation der Pressefreiheit in Deutschland.

 
Herr Mihr, Deutschland ist in der jüngst veröffentlichten Rangliste der Pressefreiheit von Platz 12 auf Platz 16 abgerutscht – woran liegt das?
Diese Verschlechterung lässt sich vor allem auf den sprunghaften Anstieg der gewaltsamen Übergriffe – mindestens 39 im Jahr 2015 – zurückführen. Es gibt in diesem Ranking verschiedene Faktoren, die die Position eines Landes bestimmen. Ein Mehr an Gewalt gegen Journalisten ist dabei ein besonders schwerwiegender Faktor.
Wie lässt sich der Anstieg der Übergriffe erklären?
Durch die medienfeindliche Rhetorik von Pegida und der AfD herrscht ein anderes Klima im Land. Zudem ist durch Soziale Medien wie etwa Facebook ein Raum an alternativer Öffentlichkeit entstanden, in dem vieles an Beleidigung stattfindet. Die Leute kommen durch Soziale Medien mit anderen Menschen zusammen, die ähnliche Ansichten haben. Dadurch entsteht das Gefühl, nicht allein zu sein mit seiner Meinung, es entsteht ein Gefühl von Stärke. Man traut sich mehr. Das wirkt wie ein Verstärker für Feindseligkeiten. Die Medien befinden sich zudem in einer Glaubwürdigkeitskrise, die es allerdings schon vorher gab und die von den Medienschaffenden vielleicht auch zu lange unterschätzt wurde. Das soziale Prestige von Journalisten war noch nie besonders hoch.
Haben Journalisten also selbst zur derzeitigen Lage beigetragen?
Ich glaube, Journalisten haben sich zu unkritisch mit ihrem schlechten Ansehen beschäftigt. Vielleicht hätte man früher transparent machen sollen, wie bestimmte redaktionelle Entscheidungen gefällt werden. Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir insgesamt einen guten Journalismus in Deutschland haben.
Gibt es Regionen, in denen es besonders viele Übergriffe gibt?
Die Gewalt ist auf ganz Deutschland verteilt. Dennoch gibt es einen offensichtlichen geografischen Schwerpunkt: Sachsen.
Wie verhält sich die Polizei bei Übergriffen auf Journalisten?
Die Polizei wirkte vor allem in Leipzig und Dresden häufig überfordert. Es gibt glaubwürdige Berichte, dass Beamte auf Demonstrationen bewusst weggeschaut haben, wenn Journalisten angegriffen wurden. In diesen Fällen macht sich die Polizei mitschuldig.
Wie reagieren Journalisten auf die jüngsten Entwicklungen?
Einige von ihnen trauen sich nur noch mit Sicherheitspersonal auf Demonstrationen, und es ist eine dramatische Entwicklung, wenn die Presse ihre grundgesetzlich verankerte Pflicht nur noch unter diesen Bedingungen wahrnehmen kann. Unter den deutschen Journalisten herrscht eine große Verunsicherung, viele haben Selbstzweifel. Dennoch habe ich nicht den Eindruck, dass in großem Maße Selbstzensur betrieben wird. Stattdessen achten Journalisten verstärkt auf Transparenz, es gibt mehr Pro/Contra-Formate. Das ist durchaus positiv zu sehen.
Welche weiteren Faktoren außer Gewalt gegen Journalisten beeinflussen die Pressefreiheit negativ?
Zum Beispiel, dass wir mehr Überwachungspraktiken haben – etwa die Vorratsdatenspeicherung. Diese führt zu einer lediglich geringfügig höheren Aufklärungsquote, doch Informanten werden durch solche Maßnahmen verunsichert. Der BND hat immer weiter reichende Überwachungsmöglichkeiten. Es fehlt außerdem an einem wirksamen Schutz für Whistleblower. „Datenhehlerei“ – also die Beschaffung, Überlassung oder Verbreitung nicht allgemein zugänglicher Daten – ist zu einem neuen Straftatbestand geworden. Das kriminalisiert Journalisten. Schließlich betrachten wir auch mit Sorge, dass immer mehr Zeitungen zusammengelegt werden. Dadurch schwindet die mediale Vielfalt.
Ein kurzer Blick auf die Situation der Pressefreiheit weltweit...
Die Pressefreiheit hat sich global betrachtet im Dreijahresvergleich verschlechtert. In vielen der insgesamt 180 Länder, die in der Rangliste erscheinen, werden Produktionsmittel zerstört oder beschlagnahmt: etwa Druckerpressen, Fotoausrüstung oder Internetzugänge blockiert. Besonders bedrohlich für die Pressefreiheit sind private Gewaltakteure. Diese gewinnen zunehmend an Macht, weil es immer mehr zerfallende Staaten gibt. Das dadurch entstehende Machtvakuum wird von Gruppen wie dem IS, den Taliban oder Boko Haram ausgefüllt. Akteure wie etwa der IS erkennen die Unabhängigkeit von Journalisten nicht an, sie akzeptieren keinerlei Menschenrechte und lassen sich auch nicht darauf verpflichten. Reporter ohne Grenzen setzt sich daher für einen UNO-Sonderbeauftragten für Journalisten ein, der Verstöße gegen die Pressefreiheit dokumentiert und so auch die Vergehen der privaten Gewaltakteure zumindest öffentlich macht.
Wie beurteilen Sie die momentane Situation der Pressefreiheit in der Türkei?
Türkische Journalisten müssen sich zu Hunderten wegen kritischer oder investigativer Veröffentlichungen vor Gericht verantworten. Einige sitzen im Gefängnis, weiteren drohen lange Haftstrafen. Besonders gravierend für die Betroffenen ist es, wenn Terror-Vorwürfe ins Spiel kommen. Dem Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet und seinem Hauptstadtbüroleiter drohen zum Beispiel lebenslange Haftstrafen, weil die Staatsanwaltschaft eine Recherche über mutmaßliche Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an syrische Islamisten als Spionage, Verbreitung von Staatsgeheimnissen und Unterstützung einer terroristischen Organisation interpretiert.