Was hat die Nofretete mit dem Urknall zu tun? In beiden Fällen geht es um kleine Störungen der Symmetrie. Die ägyptische Schönheit wird dadurch erst richtig lebendig – und ohne die Asymmetrie des Urknalls gäbe es keine Sterne, Planeten und kein Leben.

Halle (Saale) - Jona war sauer, nachdem die böse Stadt Ninive trotz seiner düsteren Prophezeiung verschont worden war. Und der Herr fragte Jona: „Und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als 120.000 Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist?“ Dem Chemiker Martin Quack von der ETH Zürich gefällt die Bibelstelle – und er ergänzt sogleich, dass die Menschen bis ins 19. Jahrhundert ein linkshändiges Molekül nicht von einem rechtshändigen unterscheiden konnten. Welch Jammer! So konnten sie auch nicht darüber staunen, dass alle Aminosäuren in allen Lebewesen auf der Welt linkshändig sind. Ist das nur ein Zufall? Warum spielen die spiegelbildlichen Moleküle keine Rolle? Das wäre doch eine Frage für eine Art molekularer Theologie, sagt Quack.

 

Der Chemiker wendet sich an sein Publikum: die Gelehrten der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Würden Lebewesen auf dieselbe Art funktionieren, wenn man alle Moleküle in ihre Spiegelbilder vertauschte?, fragt Quack bei einer Tagung in Halle an der Saale. Eine Mehrheit der Kollegen ist skeptisch. Quack auch: er hat berechnet, dass sich die links- und rechtshändige Variante eines Moleküls leicht unterscheiden müsste. Seit einigen Jahren versucht er, den Unterschied im Labor nachzuweisen – keine leichte Aufgabe, denn der Unterschied ist wirklich klein.

Diese Arbeit hat ihn darauf gebracht, der Akademie die kleinen Brüche der Symmetrie als Thema einer Tagung vorzuschlagen. Einer Tagung, die neben Chemikern wie ihm auch Kosmologen und Choreografen, Krebsforscher und Kunsthistoriker zusammenbringt. Wenn man die Mediziner ausnimmt, die an der Gesundheit interessiert sind und damit an biologischen Abläufen im Gleichgewicht, haben alle Referenten dieselbe Botschaft: Ohne Störungen ist das Leben langweilig – ja, ohne sie gäbe es das Leben gar nicht.

Warum gibt es überhaupt Materie?

Ein ähnliches Gedankenexperiment wie das von Quack schlägt der Physiker Gerald Gabrielse von der Harvard University vor: Wie wäre es, wenn alle Atome seines Körpers durch ihr Antiteilchen ersetzt würden? Wäre der Antimaterie-Gabrielse etwa intelligenter, schlanker und besser aussehend? Leider nein, sagt er. Auf der Leinwand kreuzt er die möglichen Verbesserungen seiner Person durch. Die bisherige Physik sehe beide Teilchensorten als symmetrisch an, erklärt Gabrielse.

Und doch muss es einen Unterschied geben, dem wir alles verdanken, das wir kennen. Denn als das Universum seinen Anfang nahm, müssten aus der Energie des Vakuums stets Paare von Materie- und Antimaterieteilchen entstanden sein. Wenn so etwas geschieht, stoßen die beiden Teilchen bald wieder zusammen und vernichten sich gegenseitig in einem Energieblitz. Doch beim Urknall sind am Ende der gewaltigen Schlacht einige Materieteilchen übrig geblieben, die heute Planeten und Sterne bilden. Auf eine Milliarde Energieblitze kam ein übrig gebliebenes Teilchen, schätzen Kosmologen. Sollten auch Antimaterieteilchen übrig geblieben sein, sagt Gabrielse, dann müsste man irgendwo im All diese Energieblitze sehen. Doch es scheint nirgendwo noch Materie auf Antimaterie zu treffen.

Die Materie, die übrig blieb, war zudem nicht völlig gleichmäßig verteilt. Und dort, wo die Materie etwas dichter war, sammelte sich durch die Schwerkraft weitere Materie an – ganz nach dem Prinzip aus dem Matthäus-Evangelium: „Denn wer da hat, dem wird gegeben.“ Diese Ungleichmäßigkeit, erläutert der Physiker Günther Hasinger von der University of Hawaii, kann man heute noch sehen: Sterne haben sich in Galaxien gesammelt, und Galaxien in Galaxienhaufen. Andere Regionen des Weltalls sind hingegen leer.

Die Nofretete steht zu gerade

Die Schwankungen in der Dichte des frühen Universums erkennt man heute auch noch in der kosmischen Hintergrundstrahlung, die kurz nach dem Urknall entstanden ist und auch heute von allen Seiten auf die Erde trifft. In den 13,8 Milliarden Jahren, die seit ihrer Entstehung vergangen sind, hat sie sich von rund 3000 Grad auf drei Grad über dem absoluten Nullpunkt abgekühlt. Von Satelliten aus hat man sie mehrfach und mit zunehmender Präzision vermessen und so ein Bild von den Variationen im jungen Universum erhalten (wir zeigen es in der Bildergalerie).

Der Kunsthistoriker Horst Bredekamp von der Humboldt-Universität Berlin bezeichnet dieses Bild als „ein Kunstwerk unserer Zeit“. In seinem Streifzug durch die Geschichte zählt er viele weitere Beispiele auf, in denen Künstler auf leichte Abweichungen setzten. So wird die Nofretete in Berlin zwar immer lotrecht aufgestellt, doch ihr Sockel ist nicht eben. Würde man keinen Keil unterschieben, wäre sie – vom Betrachter aus gesehen – um drei Grad nach rechts geneigt. Bredekamp hat sie so schon betrachten können und berichtet von einer Lebendigkeit, die von innen zu kommen scheine. Auch der vitruvianische Mensch, die berühmte Zeichnung von Leonardo da Vinci, passt nur in den Kreis, weil er die Füße zur Seite dreht. Und bei Michelangelos David sind Hände und Kopf – durchaus ansehnlich – größer dargestellt, als es zu den Proportionen passen würde.

Es heißt zwar, dass Menschen symmetrische Gesichter hübsch finden. Doch Bredekamp resümiert, dass Künstler nicht umsonst durch die Jahrhunderte ihren Werken eine leichte Asymmetrie gegeben haben. Sie berühre uns tief, sagt er. Und er stimmt dem Nobelkomitee zu, das vor einigen Jahren Teilchenphysiker auszeichnete, die sich mit den Asymmetrien subatomarer Partikel befasst hatten: „Wir sind alle Kinder einer gebrochenen Symmetrie.“

Die „Stimme der Wissenschaft“

Auszeichnung
Die Leopoldina wurde 1652 von Ärzten gegründet und ist heute eine von zehn Wissenschaftsakademien in Deutschland. Ihr Sitz ist in Halle an der Saale. Sie hat rund 1500 Mitglieder, „die sich durch bedeutende wissenschaftliche Leistungen auszeichnen“, wie es in der Satzung heißt. 2008 wurde die Leopoldina zur Nationalen Akademie der Wissenschaft ernannt – was Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Rede in Halle als „Glücksstunde“ bezeichnete. Sie forderte die Wissenschaftler auf, sich in politische Debatten einzubringen.

Politikberatung
Die Leopoldina versteht sich – in Zusammenarbeit mit den anderen Akademien – als „Stimme der Wissenschaft“ in der Öffentlichkeit. Sie veröffentlicht regelmäßig Stellungnahmen – derzeit werde etwa eine zum Thema Flüchtlinge erarbeitet, kündigte der Präsident Jörg Hacker an. Für diese Beratung hat die Akademie fünf Themenfelder festgelegt: Bioethik, Demografie, Energie, Digitalisierung der Gesellschaft – „und auch das Wissenschaftssystem selbst werden wir reflektieren müssen“, wie es Hacker formuliert.