Diese Woche herrscht in Tamm der Ausnahmezustand: über 700 Karateka sind gekommen, um ihre Kampfkunst beim Gasshuku, einem großen Trainingslager, zu üben. Auch das Karate-Nationalkader ist dabei.

Tamm - So viel Ruhe gibt es wohl selten in der Schulturnhalle in Tamm: knapp 160 Karateka, alle mit mehreren schwarzen Gürteln, lauschen im Schneidersitz den Worten von Norihiko Iida. Er ist für anderthalb Stunden ihr Shihan, ihr Großmeister der Kampfkunst. Mit sanfter Stimme erklärt er den Anwesenden neue Wurftechniken, ein Japanologie-Student übersetzt ins Deutsche: „Wenn es euch nicht möglich ist, gegen die Kraft des Gegners anzukommen, verwendet sie gegen ihn.“ Während er spricht, demonstriert er sein Können an seinem Übersetzer: scheinbar mühelos zieht er ihn mal nach vorne, drückt ihn nach hinten oder wirft ihn zur Seite um. Der Dolmetscher hat Mühe, mit der Übersetzung nachzukommen. Unter den Karateka gibt es kurz Gelächter, dann ist man wieder konzentriert und antwortet dem Meister: „Oss“, was soviel heißt wie „Ich habe verstanden“. Man hat nicht alle Tage die Gelegenheit, ein Training von einem Karate-Großmeister zu bekommen, der den achten Dan hat. Kein Europäer hat einen so hohen Meistergrad im Karate erreicht.

 

Tamm befindet sich diese Woche im Ausnahmezustand: Mehr als 700 Karatekämpfer sind in die Gemeinde zum Gasshuku gekommen – das heißt soviel wie „eine Woche zusammen übernachten und trainieren“ – und ist eine Art Trainings- und Zeltlager zugleich. Einmal im Jahr findet in Deutschland das Gasshuku statt, das große Klassentreffen derer, die Shotokan-Karate lernen und lehren. In Tamm ist es nach 2007 und 2010 bereits das dritte Mal. „Wir machen das offenbar recht gut“, sagt Annett Peterhänsel von Bushido Tamm, der Karateabteilung des Turnvereins.

Tamm im Ausnahmezustand

Dazu muss einiges getan werden. Damit die unterschiedlichen Karate-Ränge, Kyu und Dan verschiedener Stufen, jeweils dreimal am Tag trainieren können, braucht es mindestens drei Turnhallen. Neben der Egelseehalle, die dem Turnverein gehört, dürfen die Karateka auch die städtischen Hallen der Schulen nutzen – immerhin sind Sommerferien. Die Gemeinde hat sogar die Ludwigsburger Straße vor der Turnhalle und dem Festzelt gesperrt, auch der Linienbus wurde umgeleitet. Einige Karatevereine haben Klassenzimmer in der benachbarten Realschule bezogen und sich dort Matratzenlager eingerichtet. Andere zelten auf der Wiese vor dem Fußballplatz des VfB Tamm. Bei knapp 200 Zelten und Wohnwagen fühlt man sich fast wie auf einem Festival – mit dem Unterschied, dass nirgendwo Müll herumliegt.

„Die ganze Gemeinde hilft mit“, sagt Jürgen Breitinger, der Abteilungsleiter und Cheftrainer von Bushido Tamm. Am Montag war der Bürgermeister Martin Bernhard da und hat geholfen, Brote zu schmieren. Abends hat er die Karateka im Festzelt offiziell begrüßt – mit Fassanstich und Festzelt-Musik des Fanfarenzugs. Gasshuku ist auch eine Feier: abends gibt es Disco, Karaoke oder Live-Musik im Zelt.

Für Marco Lehmann ist es das zweite Gasshuku im Tamm. Der 20-jährige Asperger ist im Nationalkader und hat bei der Europameisterschaft in Prag den dritten Platz in seiner Altersklasse belegt. Mit sieben Jahren machte er seine ersten Karatebewegungen, damals noch, weil er Filme mit Jackie Chan und Co. cool fand.

„Aber da entsteht ein völlig falscher Eindruck von Karate“, sagt er. Die Sportart sei nämlich tiefsinniger, als ihn die Actionstreifen darstellen. Die Schulung von Geist und Charakter gehöre auch dazu. Ein Zitat von Gichin Funakoshi, dem Gründer des Shotokan-Karate, verdeutlicht dies: „Bevor du den Gegner besiegst, musst du dich selbst besiegen.“

Zum Schluss eine Ehrerbietung gegenüber den Ahnen

Am Gasshuku gefällt Lehmann die Idee des gemeinschaftlichen Trainierens, auch wenn die vier Einheiten am Tag anstrengend sind. „Aber in Japan gibt es Leute, die trainieren viel härter“, sagt er. Muskelkater und der ein oder andere blaue Fleck gehörten eben auch zum Gasshuku. „Und die Verletzungsgefahr ist beim Handball oder Fußball größer“, sagt er.

In der Turnhalle ruft Shinan Norihiko Iida „Mokuso“. Es ist das Signal für den Abgruß der Karateka, der Ehrerbietung gegenüber den Ahnen. An der Wand hängen Bilder von Gichin Funakoshi und Masatoshi Nakayama, den Gründervätern des modernen japanischen Karate. Die Karateka bilden acht Reihen, schließen die Augen und verbeugen sich. Diese Trainingseinheit ist für sie zu Ende. Vor dem Halleneingang warten schon die nächsten Schwarzgurte auf eine Lektion von Norihiko Iida.