Angefangen hat Hussein al-Taleb mit einem Internetcafé. Heute gibt es in seinem Laden scheinbar alles zu kaufen. Ein Blick in die Regale zeigt, was Menschen wollen.

Stuttgart - An einem normalen Tag verkauft Hussein al-Taleb, den alle nur Hussein nennen, von allem etwas: etwa Shisha-Tabak, eine Klobürste und eine druckluftbetriebene Tröte. Kaum auszudenken, was an ungewöhnlichen Tagen über seinen Ladentisch rutscht – es ist ja fast alles da.

 

Eine Kreuzung vom Bahnhof in Obertürkheim entfernt liegt Husseins Laden auf einer Ecke mit zwei Eingängen. Die Fensterscheiben sind zugeklebt mit Werbung und dem Hinweis, dass Hunde draußen bleiben müssen. Innen wirkt es auf den ersten Blick, als sei eine Transport-Drohne von Amazon explodiert: Mit einer gleichmäßigen Unordnung liegt auf einer Fläche von rund 50 Quadratmetern eine wilde Auswahl an Produkten verstreut.

Schläuche und Kohle für Wasserpfeifen, Briefumschläge und Klebezettel, Batterien und Lampen, USB-Kabel und Handy-Schutzfolien, über allem ein ferngesteuerter Helikopter, so groß wie ein Kind. Daneben: Aschenbecher in Form von Basketbällen, Wecker in allen Größen, Geburtstagskerzen, ein Set mit Christbaumschmuck zum Bemalen, Henna-Tattoo-Paste in der Tube neben „Disneys Camp Rock“-Kakaotassen.

Natürlich kann Hussein nicht wirklich alles anbieten. Dafür gibt es nicht genug Platz. Also trifft er eine Auswahl. Bei einem Rundgang durch seinen Laden kann man viel lernen: über das, was anscheinend notwendig ist. Über das, was scheinbar unnütz ist. Und über Hussein. Den Menschen, der beides in seinem Laden vereint.

In einer Ecke des Ladens sitzt Hussein hinter seiner Theke in einem Bürostuhl versunken. Über die Armstützen hat er Frischhaltefolie gewickelt, damit sie sich nicht abnutzen. Wenn kein Kunde da ist, flimmern auf einem Tablet in seinen Händen lustige Videos. Er trägt ein Käppi über dem breiten weichen Gesicht, dazu bei fast jedem Wetter Sandalen und Jeans. Auf flüchtige Kunden wirkt der 53-Jährige merkwürdig reserviert. Die deutsche Sprache ist ihm manchmal ein Hindernis.

Nach Deutschland kam er als Flüchtling. 2001 schickte ihn sein Vater aus Bagdad fort. Sich politisch zu äußern wurde zu der Zeit im Irak immer gefährlicher, doch eigentlich redet Hussein gern. Zweimal hat das Regime ihn deshalb ins Gefängnis gesteckt. Vor dem dritten Mal flüchtete er mit dem Auto in die Türkei. Buchte einen Flug nach Tunesien und stieg beim Transit in Milano aus. Mit dem Zug sollte es weiter nach Dänemark oder Schweden gehen, doch das Geld reichte nur bis Deutschland.

Die ersten zwei Jahre putzte er hier in einer Kolonne. Danach war er Hausmeister in einer Filiale von McDonald’s. Als er von einer freien Ladenfläche in Obertürkheim hörte, bestellte er sich im Quelle-Katalog acht Computer und sechs Telefone für sein eigenes Geschäft. Er zahlte in Raten. Heute steht sein Laden noch immer als Internetcafé Cyberworld im Telefonbuch. In der Realität stehen nur noch vier Computer in einem schmalen Gang zwischen der Rückseite zweier Regale und einer der gelb gestrichenen Wände. In jedem anderen Winkel des Raums wuchert Kram.

Solar-Wand-Lichter und Zahnbürsten, Taschenlaser und ein 31-teiliges Schraubenzieher-Set, Taschenlampen, Scheren und Taschenrechner, eine Auswahl an Hüfttaschen und Brustbeuteln, Seifenblasen und Guy-Fawks-Masken neben Verlängerungskabeln und Mehrfachsteckdosen.

Über die Jahre wurden die Computer und die Telefonkabinen zu einer Nische in Husseins Laden. An Rechner Nummer drei bucht ein Mann eine halbe Stunde für einen Euro und füllt online Gewinnspiele aus. Die Eingabemasken sind ihm auf seinem Smartphone zu klein. An Rechner Nummer eins schreibt eine Frau eine Stunde lang E-Mails und druckt schließlich etwas aus. Auf dem Weg zurück zum Tresen wirft sie weiße Einweghandschuhe weg.

Ein Mann mit gebügeltem Hemd und schneidiger Brille marschiert zum Tresen und kauft ein Verlängerungskabel für Mikro-Klinkenkabel. Zwei Halbstarke in Trainingsjacken kaufen ein Heftchen lange Zigarettenpapiere. Zwei Gerüstbauer, die nur Italienisch sprechen, kaufen eine Satellitenschüssel. Immer mal wieder fragt eine Mutter nach einem Fidget Spinner für ihr Kind. Hussein kann die Aufregung über die Handkreisel nicht verstehen. Aber als Geschäftsmann geht er mit der Zeit.

Das meiste Geld macht er mit kleinen Teilen, die er als Restposten kauft. Alle paar Monate mietet Hussein mit einem Bekannten einen Transporter und fährt nach Frankfurt. Dort gebe es gigantische Lagerhallen, in denen Chinesen Massenware anbieten. Was er dort nicht findet, bestellt er auf speziellen Seiten im Internet.

So kommt er günstig an Sportbandagen, Hundeleinen und Wärmegürtel, Parkuhren, Anti-Rutsch-Stuhlpads und Fusselrollen. Außerdem: Bilderrahmen, Uhren, Bimsschwämme, Acryls-Bong für Marihuana, Haarstyling-Gel, Luftfächer, Zahnstocher, Duft-Teelichter, Kondome in bunten Blechdosen und Magnete in Form von Fischen.

Gegen Mittag packt Hussein eine seiner Bestellungen aus und lächelt dabei wie ein Kind an Weihnachten. „Leute haben immer gefragt“, erklärt er in seinem mechanischen Deutsch und fischt 200 Paar Schnürsenkel aus dem Karton.

In seinem Reich macht allein Hussein die Regeln: Als Muslim verkauft er weder Alkohol noch Kaugummis mit Schweine-Gelatine. Wer klaut, braucht nicht wiederkommen. Der Ausweis wird in diesem Fall als Verwarnung eingescannt. Überfallen wurde Hussein noch nie. Zur Sicherheit liegt unter der Schublade mit der Kasse trotzdem eine wuchtige Taschenlampe.

Ein alter Mann mit vernarbtem Gesicht betritt den Laden. Er trägt Schuhe mit Stahlkappen und eine zerschlissene orangenfarbene Hose. In seiner grauen Kapuze ist ein Brandloch von der Größe einer Erdnuss. Mit geneigtem Kopf bewegt er seinen sehnigen Körper zielstrebig auf den Tresen zu. Vor Hussein angekommen blickt er auf und erklärt: „Machst du schicken Geld Western.“ Hussein nickt.

Western Union ist ein Anbieter von Bargeldtransfer, den man in Läden wie diesem auf der ganzen Welt findet. Mit einem Ausweis und gegen eine pauschale Gebühr kann man Geld verschicken. Hussein verdient an jeder Überweisung ein paar Euro. Am Tag wandern mehr Pässe über seinen Tisch als bei so manchem Grenzschutzbeamten: Eine Frau mit rosa Kopftuch und bodenlangem schwarzem Kleid schickt 50 Euro in die Türkei, eine ältere Dame mit hellem Mantel und silbernen Haaren 500 Euro nach Russland. Gegen Abend stehen immer mehr Männer vor Hussein Schlange: Verschwitzt und staubig schicken sie 100 Euro in den Kosovo, 500 Euro nach Bosnien oder 310 Euro nach Serbien.

Hussein nimmt auch UPS-Pakete an, verkauft Flixbus-Tickets und schießt in einer Ecke biometrische Passfotos. Seit einem halben Jahr macht er auch Schlüssel nach. Neben solchen Dienstleistungen bietet er Klassiker wie Regenschirme, Schwimmbrillen, Mausefallen und Einlegesohlen.

Im Monat verdient Hussein rund 2000 Euro. 500 davon schickt er in den Irak, dort hat er eine Frau und zwei Kinder. Seit seiner Flucht sieht er sie ein, zwei Mal im Jahr. Noch reicht das Geld nicht, damit sie ihm folgen dürfen. Zunächst muss er dem deutschen Staat beweisen, dass er sich seine Familie leisten kann: Er braucht genügend Geld für ihr tägliches Leben, die Krankenversicherung und eine Wohnung. Hussein plant deshalb, seinen Laden breiter aufzustellen. In manchen Ecken sei noch Platz.