In ganz unterschiedliche Tanzwelten führten die Produktionen am ersten Colours-Wochenende im Theaterhaus. Doch bei aller Andersartigkeit war auch ein roter Faden zu erkennen: Cristiana Morganti, eine Tänzerin von Pina Bausch, Russel Maliphant sowie Tänzer und Artisten aus Australien übten sich in der Kunst des Einfachen.

Stuttgart - Bereits am zweiten Festivaltag brachte Colours gehörig zum Staunen. Zirkus? Wer dachte, dass da alles gesagt sei und dann doch in die Fänge von acht jungen Artisten aus Australien geriet, der wird diesem Zufall dankbar sein. Gravity & other Myths nennen sie sich, smart wie ihr Name ist ihre Show „A simple space“. Die heißt so, weil sie nicht mehr braucht als eine zimmergroße Fläche, dazu Muskelkraft und Hirnschmalz. Bindemittel sind Witz und Charme, Abfallprodukt ist sehr viel Schweiß – und noch mehr Applaus auf Seiten des Publikums in der Theaterhaus-Turnhalle. Wie ein richtiger Zirkus haben die Australier ein Orchester dabei, das aus einem Musiker an Schlagzeug und Elektronik besteht. Wie im echten Zirkus geht’s um schneller, höher, weiter. Doch die australischen Schwerkraft-Künstler konterkarieren den menschlichen Drang zum Wettbewerb mit so viel Ironie, dass man zwischen Luftanhalten und Losprusten fast das Atmen vergisst. Wer hält länger im Handstand durch, wer schafft mehr Salti? Jede Aufgabe endet in den verrücktesten Hochstapeleien und Menschenhaufen. Was das mit Tanz zu tun hat? Wer gesehen hat, wie man furchtlos umkippt in der Hoffnung, dass ein Kollege beim Stichwort „falling“ reagiert, sieht Kontaktimprovisation in neuem Licht. Am Ende sah die Turnhalle aus wie nach einem Kindergeburtstag – und so beseelt und aufgedreht kam das Publikum auch aus ihr heraus.

 

Dass man auch Opfer der Schwerkraft werden kann, musste unterdessen Gauthier Dance in der Halle gegenüber bei „Mega Israel“ erleben. Das Stück „Killer Pig“ machte seinem Namen alle Ehre und entließ die Tänzerin Barbara Melo Freire verletzt. Ihre Kollegin Garazi Perez Oloriz verbrachte den Samstag mit dem Einstudieren des anspruchsvollen Parts und rettete die restlichen Vorstellungen.

Tanz in der Zeit leuchtender Displays

Akrobatische Virtuosität? Das ist ein Anspruch an die Tanzkunst, den Russell Maliphant seit vielen Jahren auf ganz eigene Weise erfüllt. Im Dialog von Licht und Bewegung gelingt dem Briten ein wunderbares Fließen, das Beine, Arme und Hände fliegen lässt, aber selbst bei hoher Drehzahl den Körper nie aus der Balance bringt. Der Abend „Conceal / Reveal“ folgt der für Maliphant typisch feinen Dramaturgie in der Abfolge von zwei Soli – erst eines für seine aus langer Familienpause zurückgekehrte Frau Dana Fouras, dann eines für sich selbst – und zwei Gruppenstücken, darunter das relativ neue „Piece No. 43“ für fünf Tänzer. Maliphants Tanz ist präzise, abstrakt und wird so Projektionsfläche. Wenn Tänzer in den Lichtfeldern von Michael Hulls isoliert agieren, dann passt das in eine von leuchtenden Displays bestimmte Zeit. Und wie Maliphant die Sehnsucht nach dem Kollektiv schürt, bedient und wieder in Frage stellt, ist einfach schön.

Pina Bauschs Beitrag

Das Wuppertaler Tanztheater ist bei Colours zwar nicht direkt vertreten, mit zwei seiner Künstler aber doch präsent. Die Italienerin Cristiana Morganti, von 1993 bis 2013 in der Kompanie von Pina Bausch, gab mit ihrer 2010 entstandenen Lecture-Performance „Moving with Pina“ in bewegenden Worten und erhellenden Tanzsequenzen Einblick in die Arbeits- und Denkweise der 2009 verstorbenen Choreografin. Der Australier Paul White, erster Neuzugang in Wuppertal nach dem Tod der Gründerin, zeigte mit der wie er selbst aus Sydney stammenden Narelle Benjamin in dem von Colours mitproduzierten Duo „Cella“, dass der Mensch ohne ein Gegenüber nicht existieren kann.

Charmant, unterhaltsam und zugleich augenöffnend für die Geheimnisse im Werk und Erbe Pina Bauschs: Die Hommage „Moving with Pina“ ist ein Solo, das aus zwanzig gemeinsamen Jahren schöpft. Anfangs und am Schluss im roten Abendkleid, dazwischen im schwarzen Trainingsdress, wechselte Morganti geschmeidig zwischen Anekdoten, dem Nachdenken über Bauschs Begabungen und Kostproben aus „Frühlingsopfer“, „Agua“ oder „Kontakthof“ hin und her. Ausgehend von den Fragen, die sie am Anfang jeder Produktion an die Tänzer stellte, und vorführend, was aus den getanzten Antworten wurde, machte Morganti die zentralen Aspekte im Schaffen der großen Bausch erlebbar: die Frage, welche Gefühle Tanz motivieren und der Wille zur Präzision.

Tanz als Schöpfungsakt

Düster und nebelig ist das Bühnenuniversum, in dem sich die Narelle Benjamin und Paul White mit Yoga-Übungen einrichten, während das Publikum seine Plätze einnimmt. Wann genau das Vorspiel endet und „Cella“ beginnt, lässt sich nur schwer bestimmen. So wie Energie in einem geschlossenen System weder ab- noch zunehmen, sich aber wandeln kann, so agil verbiegen die Protagonisten ihre Körper, um bald zu metallischen Klängen wie Planeten auf gegenläufigen Bahnen über den Boden zu rollen. Urmaterie! Daraus erwachsen Triebe und Fühler: schlängelnde Hände und Arme, die den Raum erkunden und ins Helle streben. Ein Lichtkegel fällt in die Finsternis und ermöglicht den Gestalten, sich selbst zu entdecken wie Narziss im spiegelnden Wasser. Aus einer Art Paarung entstehen nach und nach verschiedene Mischwesen. Die eine Kreatur hat vier Arme, die andere vier Beine. Zwei Rücken bilden den Corpus eines Käfers, ein Wesen mit Zottelhaar laust sein Alter Ego und damit sich selbst.

Es sind starke Bewegtbilder, die Benjamin und White in ihrer Choreografie finden, um das ewige Werden und Vergehen in Gang zu halten und am eigenen Körper geradezu exzessiv vorzuführen. Spiegelbilder entstehen, die sich kaleidoskopisch mit jeder Bewegung neu bilden und wie Farbschlieren ineinanderfließen.

Wie schwer es ist, aus diesem Sog auszubrechen, verdeutlicht die letzte Viertelstunde des gut einstündigen Werks. Wie es einen fließenden Anfang gab, so mündet eine Tanzszene in die nächste, ohne dass ein Ende in Sicht käme. Die Bilder beginnen sich zu wiederholen und verlieren mit einem Podest als Mitspieler an Dringlichkeit. Dennoch: „Cella“ ist ein Stück, das einen über die Uraufführung hinaus beschäftigen wird. Der Tanz belegt darin seine schöpferische Kraft.