Im Rahmen unserer Semf-Serie schauen wir mit DJ und Produzent Alexander Maier zurück ins Semf-Gründungsjahr 2006. Was hat sich verändert, welche Clubs werden vermisst, was ist wieder da?

Stuttgart - Im Jahr 2006 fand zum ersten Mal das Stuttgart Electronic Music Festival statt - damals im beschaulichen Rocker-33-Innenhof. Auf dem Flyer standen Namen wie Northern Lite, Water Lilly, Tobi Neumann, DJ Thomilla, Superpitcher oder Justus Köhnke. Klingt weit weg im direkten Vergleich mit den heutigen Semf-Ausgaben auf der Messe mit seinen vier riesigen Floors. Was war das für eine Zeit, 2006 in Stuttgart? Wo ging man hin, wie war der Sound, was war anders als heute? Zum zehnten Geburtstag reisen wir ein wenig mit DJ, Produzent, Zeitzeuge und dem immer-schon-da-gewesenen Alexander Maier in die elektronische Szene Stuttgarts 2006 zurück. Alex legt gemeinsam mit Philipp Werner bei der diesjährigen Ausgabe des Festivals auf.

Alex schießen prompt die Clubs Ciné Colibri und Rocker 33 in den Sinn. „Wie einige behaupten, auch die glorious Days von Stuttgarts elektronischer Szene.“ In beiden Läden war er Resident. Das Rocker 33 und dessen Lebenslauf sind wohl auch heutzutage noch den meisten Clubbern geläufig, im Gegensatz zum Colibri in der Alten Poststraße am Rotebühlplatz. Das ehemalige Kino wurde von 2004 bis Ende 2007 als Club betrieben und danach zu einem Geschäftshaus saniert. In dem Gebäude residieren heute unter anderem ein Brettsport- und Fotogeschäft.

 

Lockere Jedermann-Feier-Attitüde

In seiner relativ kurzen Laufzeit mutierte das Colibri dank des Charmes eines ehemaligen Kinos, der lockeren Jedermann-Feier-Attitüde und Gast-Acts wie Laurent Garnier, Loco Dice, Luciano, Ida Engberg, Kollektiv Turmstrasse oder Einmusik „zum dem Treffpunkt für alle Aktivisten & Hedonisten der elektronischen Szene“, wie es Alex beschreibt und schwärmt weiter: „Die Anlage und Raumakustik war meines Erachtens nach die Beste, die ich bis zum heutigen Tag in Stuttgart erleben durfte.“ Manche Gast-DJs standen damals noch am Anfang ihrer großen Karriere und wären heute in einem kleinen Rahmen wie dem Colibri nicht mehr realisierbar.




Neben Colibri und Rocker ging man damals auch ins Climax, das 2006 zehnjähriges Bestehen feierte, ab und zu noch ins Zapata zu einzelnen Veranstaltungen und gelegentlich ins Prag zu härteren Techno-Events. Das M1 im Bosch-Areal (heute Lehmann) hatte nur noch bis Frühling 2007 geöffnet, dafür war die Finca frisch im Rennen. Die teilt sich den aktuellen Stuttgarter Electronic-Markt unter anderem mit den Läden Kowalski, Romy S., Romantica, White Noise und besagten Clubs Lehmann und Climax.

Im Jahr 2006 war die elektronische Musik im Umbruch, erinnert sich Alex. „Electro-Clash war zu dieser Zeit auch in Stuttgart (fast wieder) rum und der Sound hat sich damals in der Szene sehr stark auf Minimal & Tech-House konzentriert.“ Beim ersten Semf hat man mit dem entsprechenden Line-up noch beiden Strömungen Tribut gezollt, wie man heutzutage auf vier Floors versucht, den aktuellen elektronischen Zeitgeist widerzuspiegeln.

Alex weigert sich seine Musik zu kategorisieren

Als DJ und Produzent weigert sich Alex, seine Musik zu kategorisieren und sich in das Korsett eines Unter-Genres zu zwängen, weil es das künstlerische Schaffen einschränkt. „Ich überlege mir beim Produzieren nicht, dass ich jetzt ein Genre-X Stück produziere. Das ergibt sich einfach und so ähnlich halte ich es auch beim Auflegen.“ Auch gestalte er seine Sets im Rahmen seines Spektrums dem Club oder der Veranstaltung entsprechend.

Seine Vielfältigkeit wird Alex beim Semf demonstrieren, denn da spielt Alex mit Kollege Philipp Werner, etwas untypisch für die beiden, auf dem härteren Techno-Floor. „Wer uns beide kennt, weiß dass dies etwas Besonderes ist, da wir in der jüngeren Vergangenheit nicht unbedingt oft Techno-Sets gespielt haben. Aber wir haben richtig Bock drauf. Motto: Burning Down the Semf.“

Abgesehen davon, dass der Electro-Clash-Pop-Sound längst gar nicht mehr angesagt ist, sieht Alex zwischen 2006 und 2016 keine wesentlichen musikalischen Unterschiede. „Es ist wie in der Mode, alles kommt wieder nur der entsprechenden Zeit wieder angepasst.“ Man sieht das auch anhand der erwähnten Clubs, die sich zwischen den Koordinaten Deep-Tech-House und Techno stabilisiert haben. Man hört es den Tracks kaum mehr an, ob sie 2016 oder zum Beispiel 2009 veröffentlicht wurden. Manche ältere DJs freuen sich auch, dass sie nun wieder noch ältere, schnelle Techno-Platten aus den 90ern spielen könnte, weil sie aktuell wunderbar reinpassen. Der minimalistische, loopige, rohe Techno-Sound ist wieder voll da, das Semf bietet dafür gleich zwei Floors an, und bestätigt wieder die alte Popkultur-Regel: Nach zwanzig Jahren gibt es ein Revival.



Auch wenn die elektronische Klangästhetik seit einigen Jahren auf einem gewissen Qualitätslevel relativ statisch ist, hat sich aber vor allem bei der DJ-Technologie in der letzten Dekade viel verändert „2006 habe ich noch zu 90 Prozent Platten aufgelegt und 10 Prozent CDs. Heute spiele ich 100 Prozent vom USB-Stick“, erklärt Alex. Den Stick wird mit MP3s befüllt und in die modernen CD-Player gesteckt. Zurückblickend wird Alex etwas nostalgisch und vermisst das „Platten diggen“, das Vinyl-Feeling und Artworks sowie allgemein den Plattenladen als soziale Schnittstelle unter Gleichgesinnten. „Aber auf der anderen Seite bin ich auch froh, dass ich heute keine vierzig Kilo an Platten mehr mit mir rumschleppen muss.“ Es hat eben alles seine Vor- und Nachteile und für diesen Satz kommen fünf Euro ins Techno-Phrasenschwein, ein kleiner Anteil dessen, was man der Krankenkasse für die Rückenbehandlung erspart hat.

Weniger schleppen ist toll, aber was vermisst Alex aus den Mit-Nullerjahren? „Ich persönlich finde, dass die Szene heute etwas übersättigt ist und die Neugier auf Neues stark nachgelassen hat. Die Partygänger gehen deutlich selektiver zu Veranstaltungen mit bereits bekannten Top-Bookings und haben eine gewisse Erwartungshaltung an den Abend.“ Dabei sei doch gerade die elektronische Szene musikalisch so vielfältig. Außerdem wünscht er sich manchmal die „Prä-Social-Media-Zeit“ zurück. „Dieses andauernde Gehate von Einzelnen in den sozialen Medien, dass zum Beispiel in unserer Stadt nichts los, die Subkultur nicht gefördert oder der Club und die Events oder das Lineup scheiße ist, gab es vor zehn Jahren noch nicht in dieser Form.“

Natürlich wurde schon immer gelästert, aber heutzutage sei das freilich viel transparenter und jeder meine seinen Senf dazugeben zu müssen. „Und wenn man schon seinen Senf dazu gibt, dann doch bitte sachlich und mit gegenseitigem Respekt.“ Klare Ansage. Unterschreiben wir. Und lassen den Senf ruhen und freuen uns weiter auf das Semf – unter anderem mit Alexander Maier und Philipp Werner.