Tausende Menschen haben am Samstag auf der Messe beim Techno-Festival Semf gefeiert. Stadtkind war natürlich auch wieder vor Ort, hat mitgefeiert und Eindrücke mitgebracht.

Stuttgart - Eine Sekunde lang überlegen wir uns, ob wir für ein Bild an einem der Stände Raver-Sonnenbrillen kaufen sollen, aber: „Das Bild kostet dann 30 Euro.“ Wir lassen das also und investieren in die nächsten Getränke-Tokens. Die permanente Aufnahme von Flüssigkeit in einem Zeitraum von 20 Uhr bis frühspätmorgens erscheint wichtiger als etwas Plastik auf der Nase. Und außerdem: Die Sonnenbrille. Zwar auch laut der Veranstalter eines der beständigsten Mode-Gadgets der letzten zehn Semf-Jahre, ist 2016 gefühlt nicht mehr ganz so der große Hit wie in den vorherigen Jahren. Auch der Einsatz von Neon-Bändern scheint rückläufig unter den 15.000 Besuchern (offizielle Zahl der Veranstalter). Auf dem Semf 2016 regiert der Mit-Zehner-Jahre-Style, heißt unter anderem freie Knöchel, viel Schwarz und viel Turnbeutel.

Understatement in der Mode hin, Verkleidungen her, an großen Augenblicken und Momenten hat es beim zehnten Geburtstag des Festivals natürlich nicht gemangelt, dieses unglaubliche Riesenevent mit seinen vier Floors und den langen Laufwegen zwischen Messe Halle 1 und ICS. Als Bindeglied zwischen den zwei Hallen lädt der „Komme Was Wolle"-Floor im Atrium zum Chillen ein. Die Freitreppe ist schnell voll belegt und man chillt zu bisweilen experimentellen Beats und Klängen von Stuttgarter Acts.

 

Jaehn setzt auf Rockstar-Performance

Semf-Debütanten sind von dem Set-Up geflasht und brauchen etwas, um sich zu orientieren und zu sortieren - man stelle sich das bekannte John-Travolta-Pulp-Fiction-Meme vor. Wo spielt jetzt genau wer nochmal? Also, jetzt gehen wir zu Alexander Maier und Philthy, support your Locals. Danach wird geschaut, was dieser Felix Jaehn auf Floor 2 drauf hat, einer der Headliner dieses Jahr.

Felix Jaehn, 22, bekannt geworden mit seinem Remix für den Reggae-Artist OMI (660 Millionen (!) Plays auf Youtube) und der Neuadaption von Chaka Khans „Ain't Nobody“, setzt bei seiner Show auf die klassische Rockstar-Performance. Er steigt mit dem Mikro in der Hand auf das DJ-Pult, entertained, macht Ansagen, um im Anschluss mit großer Pose wieder runterzuspringen. Es ist im Perfect-Content-Zeitalter fast schon unnötig zu erwähnen, dass dieser blutjunge Künstler seinen eigenen Filmer dabei hat, der um ihn, ebenso fast schon mit eigener Performance, herumtänzelt. Es ist alles bisweilen ein kurioses Schauspiel.

Klangwelten drücken Beats nach vorne

Während Felix Jaehn einen poppigen House-Sound zelebriert, der seinen Produktionen ähnelt (und tatsächlich baut er zwischendurch „Crazy“ von Gnarls Barkley ein), pumpen die Stuttgarter SHDW & Obscure nebenan auf Floor 1 ein knochentrockenes, hartes, puristisches Techno-Set. Die Hi-Hats zurren und zischen, düstere Klangwelten drücken das Beat-Gerüst nach vorne, die einzelnen Nuancen werden in den Rängen bejubelt. Es ist gerade mal Mitternacht und auf jedem Floor versammeln sich bereits mehrere Tausend Menschen.

Meanwhile at ICS: Während die Berliner Chopstick und Johnjon die Gäste auf Floor 3 wegharmonisieren und nur vereinzelt mal ein sanfter Euphorie-Schrei zu hören ist, nimmt Simo Lorenz, einer jener Stuttgarter, deren internationale Karriere aktuell in Schwung kommt, nach seinem Set warmen Applaus entgegen – sichtlich gerührt.

Zartes Kraftwerk mit blondem Pagenschnitt

Es folgt: Klaudia Gawlas. Ein zartes Kraftwerk mit blondem Pagenschnitt. Letztes Jahr musste bei ihrer Set-Time die Halle geschlossen werden, weil es zu voll wurde und auch dieses Jahr reihen sich die Fans bis ganz nach hinten auf, die ihren Namen rufen. Und sie gibt ihnen, was sie wollen. Kompromisslos, treibend, schnell, nach vorne. Das ist keine Richtung, sondern eine Einstellung. Während ein lokaler DJ meint, das wäre zu viel für sein 120-BPM-Herz, überlegen wir uns, ob wir nächstes Jahr mit Klaudia-Fanschildern kommen sollen (also falls Klaudia Gawlas nächstes Jahr wieder gebucht wird – ein Semf wird es definitiv wieder geben, bestätigt Mitveranstalter Tome Aulicky). Jawohl Mann, so muss das hier! „Alles andere ergibt auch überhaupt gar keinen Sinn“, kommentiert der Semf-Stammgast Reimund Zelch aus Stuttgart. #ballernalder

Das ist richtig. Große Halle, viele Menschen, raumfüllender Sound, das kleine Rave-Einmaleins. Es donnert und blitzt. Die Meute klebt an der Decke. Die Gawlas hat sie alle im Griff. Drei, vier Girls auf dem Bühnenbereich shuffeln hart, rammen sich ihre dünnen Beine fast ins Gesicht. Ein Typ daneben ebenso, er trägt ein Shirt mit dem Aufdruck „Techno is my culture“. In der ersten Reihe wedelt ein Gast mit einer relativ großen Spielzeug-Gans herum. Er will darauf ein Autogramm von Klaudia Gawlas ergattern, der Stage Manager möchte ihr doch bitte seine Gans reichen, was jener bestimmend verneint.

Ein DJ in schicken Lederschuhen

Die Zeit fliegt in Richtung Babba-Time. Lass doch rüber schauen, na gut. Ein Spektakel bei Sven Väth ist auch die Szenerie auf der Bühne. Es gibt bei jedem Semf ein Kontingent an Stage-Tickets, für Mitarbeiter, Aktivisten und Freunde. Und es gilt als ausgemachte Sache: Treffpunkt bei Sven Väth. Es versammeln sich: Die Stuttgarter Techno-House-Industrie und Menschen, die man früher „Szenenasen“ nannte, heute vielleicht „Influencer“. Grob geschätzt die Anzahl Leute, die auf einmal ins Bergamo/Transit passt, breitet sich auf dem kleinen Bühnengerüst aus. Händeschütteln. Smalltalk. Bei abartiger Lautstärke und einer grellen Lichtshow. Innerlicher Stress zieht auf. Schnell wieder runter hier. Rüber zu Sam Paganini, der wiederum auch auf Väths Label Cocoon veröffentlicht.

Dass der Italiener gegen seinem berühmten Labelboss nebenan antreten muss, merkt man dem Floor 1 nicht an: Pickepackevoll. Kein Wunder, Paganini ist nicht umsonst selbst zu einem internationalen Headliner aufgestiegen. Die Stuttgarter Szene kennt ihn von ausverkauften Gigs im Lehmann. Konzentriert zieht er sein einnehmendes Set durch, treibend wie bei Gawlas, hart ja, aber nicht anstrengend, federnder Groove, kickende Melodien und Klangwelten, da bleibt man gerne hängen. Zur Belohnung bekam er Bussis von Frau/Freundin und musste noch einige Autogramme geben. Ein DJ in schicken Lederschuhen: Gibt es neben DJ Hell auch nicht so oft.

Sven Väth wird aus der Halle geleitet

Look-mäßig merkt man Loco Dice wiederum seine HipHop-Wurzeln an, da ist nix mit Lederschuh, sondern mehr Basecap. Der Globetrotter und erstmaliger Gast auf dem Semf eröffnet sein Set mit mächtigen Tech-House-Beats, während sein Vorgänger Sven Väth und seine, Achtung, Plattentaschen (er ist wohl der einzige auf dem Festival, der noch mit Schallplatten auflegt) von mehreren Securitys aus der Halle geleitet werden, Secret Service - Semf Edition („Würde ich auch so machen, was glaubste wie oft der sonst angelabert wird, ey Sven, lass ma Foddo machen“, sagt jemand). Nebenan schließt Chris Liebing Floor 1, der auch in dieser Nacht Geburtstag hat und von Tausenden besungen wird.

Ein letzter Blick auf Bimbi, die Freundin von Riesenpuppe und Semf-Maskottchen Dundu, die etwas dünn geraten scheint, vielleicht ist sie auch eine Fitness-Instagrammerin, und wir verlassen das Gelände, frischer Sauerstoff, das tut ganz hervorragend nach zehn Stunden in der Halle. Die Token-Rückgabe verläuft trotz Riesenschlange überraschend zügig. Aber warum man pro Person immer nur zehn Tokens einlösen kann und falls man mehr übrig hat, sich erneut in die Schlange stellen muss, bleibt rätselhaft. Das System könnte man ja mal bis nächstes Jahr überdenken. Alles Gute zum Zehnjährigen und bis 2017!