Der Brite peilt im Finale des Tennis-Daviscups einen Sieg in Belgien an. Damit würde er nach Olympiagold 2012 und seinem Wimbledonsieg 2013 endgültig zum Nationalhelden avancieren.

Gent - Es ist noch nicht lange her, dass Großbritanniens Tennis beinahe ganz neue Tiefen auslotete. Im Juli 2010 kämpfte die Daviscup-Mannschaft von der Insel im Relegationsmatch gegen die Türkei um den Verbleib in der sogenannten Euro/Afrika-Zonengruppe 2, ein Länderspiel, das den Briten schließlich wenigstens noch die Drittklassigkeit sicherte.

 

Fünfeinhalb Jahre und zwei Aufstiege später sieht die Daviscupwelt für die Stars Ihrer Majestät bemerkenswert freundlicher aus: Andy Murray und seine Teamkameraden spielen nicht nur einfach in der Champions League mit, sie kämpfen an diesem letzten November-Wochenende tatsächlich um den Daviscupsieg. Zum ersten Mal und dazu völlig unerwartet bietet sich den Briten seit 79 Jahren die Titelchance im ältesten Nationenwettbewerb des Sports. „Es ist eine historisch einmalige Gelegenheit“, sagt der Weltranglistenzweite Murray vor dem Gastauftritt in Belgien, in der Flanders Expo-Halle zu Gent.

Es ist ein außergewöhnliches Spiel um die hässlichste Salatschüssel der Welt, um die Team-WM im Tennis. Da sind die sportlichen Streitparteien, Belgien und Großbritannien, auf die niemand zu Beginn der Saison gewettet hätte – es ist, ohne Übertreibung, das unwahrscheinlichste Finalduell der letzten Jahrzehnte. Da ist aber auch der Moment, in dem dieses Spiel stattfindet, ausgerechnet in Belgien, das seit Tagen im Zentrum des Antiterrorkampfes steht – und dessen Kapitale Brüssel zu einer Art Geisterstadt mutierte, wo das Leben erst langsam wieder Fahrt aufnimmt.

Henman hat Sicherheitsbedenken und sagt ab

Aber es ist im Tennis nicht anders als anderswo: Das Spiel muss weitergehen, auch aus der trotzigen Haltung heraus, sich den Spaß am Leben nicht verderben zu lassen. Nicht auf die schöne Nebensache Sport verzichten zu wollen. „Wir haben nie daran gedacht, das Spiel abzusagen“, sagt Gijs Kooken, der Generalsekretär des ausrichtenden Flämischen Tennisverbandes. Was natürlich auch nicht zu leugnen ist: Die Angst, die Beklemmung, sie spielen auch mit an den drei Tennistagen auf dem Messegelände von Gent – das eine knappe halbe Autostunde von Brüssel entfernt ist. Englands früherer Topmann Tim Henman sagte seine Reise sogar kurzerhand ab, offizielle Begründung: Sicherheitsbedenken.

Dabei dürfte klar sein, dass die Halle und das ganze Messeareal zu den sichersten Plätzen des Landes gehören werden: „Die Sicherheitsmaßnahmen sind noch einmal erhöht worden“, sagt der Organisator Kooken und verweist darauf, dass beispielsweise jeder Wagen, der auf das Messegelände bewegt wird, „peinlich genau gecheckt wird.“

Kooken würde das Wort nie selbst in den Mund nehmen, aber man liegt nicht falsch, wenn man den Centre-Court und seine Umgebung als Hochsicherheitstrakt bezeichnet, nicht zuletzt, weil die Zuschauer auch keinerlei Taschen oder Rücksäcke, keine Getränke und kein Essen mit in die Halle bringen dürfen. Alle, ob Gastgeber, Gäste oder der Tennisweltverband ITF, werden hoffen, dass dieses Spiel in ein paar Jahren nur für seinen sportlichen Verlauf und seine Gewinner in Erinnerung bleibt.

Die Briten schalten große Tennis-Nationen aus

Denn ein Überraschungssieger steht ja längst fest, bei diesem Finale zweier mehr als unerwarteter Finalisten. Gewinnt Belgien mit seiner ausgeglichenen Mannschaft ohne ganz große Namen, mit seinem wuseligen, fast zierlichen Spitzenmann David Goffin? Oder triumphiert doch der Favorit Britannien mit dem Weltklassespieler Andy Murray? Aber auch den Briten hätte es niemand zugetraut, sich für diesen letzten Tennis-Fall für Zwei im Daviscup zu qualifizieren – in diesem Jahr, in dem ihr Weg ins Finale ganz und gar kein leichter war. Gegen alle anderen Nationen, die ein Grand-Slam-Turnier beherbergen, traten sie an, jedes Mal als Außenseiter. Doch sie siegten erst gegen die USA, dann gegen Frankreich und gegen Australien. Allen voran: Andy Murray, unterwegs wie 2012 bei den Olympischen Spielen und 2013 im All England Club auf historischer Mission.

Zwischendurch, auf dem Höhepunkt der nationalen Daviscupkrise, hatte er sich sogar mal aus den Ausscheidungsspielen zurückgezogen, andere Prioritäten gesetzt – ganz einfach, weil er keine Perspektive als Alleinunterhalter sah. Doch inzwischen steht ihm allein mit seinem Bruder Jamie, einem der besten Doppelspieler der Welt, erstklassige Assistenz zur Seite.

Ein Daviscupsieg, das weiß Murray, wäre von seinem Gewicht her kaum weniger wert als Olympiagold oder der Wimbledon-Titel. Denn was der erfolgreichste Teamtrainer der Welt, der weise Kroate Niki Pilic, einmal persönlich formuliert hat für seinen Schützling Boris Becker, das gilt auch für jeden anderen Spieler: „Bei vielen Tennisturnieren kannst du zum großen Sieger werden, aber nur im Daviscup wirst du als Sieger zum nationalen Held.“