Flüchtlinge und Migranten empfängt Kanada mit offenen Armen. In dem Musterland für Toleranz nimmt ein Angreifer eine Moschee ins Visier und tötet sechs Menschen. Die Tat im Gotteshaus zeigt auf blutige Weise, dass auch das weltoffene Land mit radikalen Rechten kämpft.

Québec - Es ist ein kalter Sonntagabend, als sich die Gläubigen in einer Moschee im kanadischen Québec zum Gebet versammeln. Die Männer beten im Erdgeschoss des Islamischen Kulturzentrums im Stadtteil Sainte-Foy, im oberen Stockwerk halten sich Frauen und Kinder auf. Um kurz vor 20 Uhr betreten zwei schwarz gekleidete, maskierte Angreifer das Gotteshaus, wie Augenzeugen später berichten. Dann fallen Schüsse, offenbar aus einem Sturmgewehr. Bald darauf sind sechs Menschen tot und 19 verletzt, fünf schweben in Lebensgefahr.

 

Während Ärzte um die Leben der Schwerverletzten ringen, nimmt die Polizei zwei Verdächtige fest, behandelt einen davon aber bald als Zeugen und spricht nur noch von einem mutmaßlichen Täter.

„Es war jemand, der mit Waffen umgehen konnte“, sagt ein Mann der Zeitung „Globe and Mail“, der auf dem Bauch liegend im vorderen Teil der Moschee ausharrt, als der Angreifer sein Magazin leert. „Er tötete und tötete. Es war wirklich schrecklich.“ Wie viele andere hatte der Augenzeuge, der seinen Namen nicht nennt, geglaubt, die beschauliche Stadt in der französischsprachigen Provinz sei sicher, Kanada sei sicher. „Aber leider ist das nicht der Fall.“

Was trieb den Angreifer zum Blutbad in einem muslimischen Gotteshaus? Dem TV-Sender CBC zufolge handelt es sich um einen 27-Jährigen aus einem Vorort Québecs. In einer Facebook-Gruppe, die sich für Flüchtlinge stark macht, wird ihm unter Berufung auf Aktivisten nachgesagt, die französische Präsidentschaftsfavoritin Marine Le Pen von der rechtsextremen Front National (FN) zu unterstützen.

Der 27-Jährige muss sich nun wegen sechsfachen Mordes und fünffachen versuchten Mordes vor Gericht verantworten. Die Polizei kündigte diese Anklage in elf Punkten am Montag in der kanadischen Provinzhauptstadt an. Ein weiterer Verdächtiger, der nach der Attacke am Sonntagabend vorübergehend festgenommen war, wurde wieder auf freien Fuß gesetzt und wird in dem Fall nur noch als Zeuge behandelt.

Die Kanadier sind gespalten

Immer wieder wird Kanada dafür gelobt, Flüchtlinge mit offenen Armen zu empfangen, religiöse Toleranz zu leben und Migranten vom ersten Tag an beim Übergang in ihren neuen Alltag zu begleiten. Von den 765 000 Einwohnern Québecs identifizieren sich rund 6700 als Muslime. Landesweit machen Muslime 3,2 Prozent der Bevölkerung aus und stellen damit nach Christen die größte Glaubensgemeinschaft. Premierminister Justin Trudeau hat seine linksliberale Politik mehrfach gegen Angriffe von Rechts verteidigt und gilt als Integrations-Musterknabe.

Aber auch im weltoffene Kanada mit seinen zweisprachigen Städten wie Montréal toben kulturelle Konflikte. In Québec sprechen 95 Prozent der Bevölkerung Französisch, 90 Prozent geben an, Katholiken zu sein. Rechte Gruppen wie Atalante Québec, La Meute und die Soldaten Odins verbreiten im Land anti-islamische Parolen und machen Stimmung gegen Einwanderer, wie es Le Pen in Frankreich, Pegida und die AfD in Deutschland und die FPÖ in Österreich tun. Auch die scharfe Rhetorik von US-Präsident Donald Trump wurde im Nachbarland nicht überhört.

Der nutzt die Attacke in Québec, um sich mit seinem Einreisestopp gegen sieben mehrheitlich muslimische Länder zu brüsten: Mit dem umstrittenen Dekret habe Trump „proaktiv“ gehandelt, vorausschauend also, anstatt zu „warten und zu reagieren“, sagt sein Sprecher Sean Spicer. Das in eine Kondolenzbekundung an Trudeau gehüllte Selbstlob kommt bissig daher, da längst nicht klar ist, ob die von Trudeau als Terrorakt eingestufte Tat wirklich einen islamistischen Hintergrund hat.

In der Lautstärke eines Donald Trump ist dessen beißende Sprache in Kanada noch nicht angekommen. Doch auch die Kanadier sind gespalten: In einer Umfrage aus Ontario gab 2016 nur ein Drittel der Befragten an, einen positiven Eindruck vom Islam zu haben. Mehr als die Hälfte der Befragten sagte, die islamische Lehre fördere Gewalt. Gegen Muslime gerichtete Delikte haben sich gemehrt, erst im Juni lag ein abgetrennter Schweinekopf vor besagter Moschee in Québec.

Neun Jahre waren die Konservativen unter Stephen Harper an der Macht, ehe Trudeau das Zepter übernahm. Harpers Wahlniederlage ging 2015 ein nach kanadischen Standards unschöner Wahlkampf voraus: Seine Partei setzte ein Burka-Verbot auf die Agenda, als sich ihre Schlappe abzeichnete. Der Appell an „kanadische Werte“ war das letzte - wenn auch gescheiterte - Aufbäumen eines Premiers, der mit Themen wie Einwanderungsreform, bewaffneten Einsätzen im Ausland und Skepsis gegenüber dem Klimawandel drei Wahlen in Folge gewonnen hatte. Könnte bei der nächsten Wahl im Jahr 2019 gar ein strammer Harper-Nachfolger nach dem Vorbild Trumps antreten?

So weit ist es noch nicht, doch ihre Verzweiflung können einige Politiker schon jetzt nicht mehr verbergen. „An die muslimische Gemeinde, unsere Nachbarn, unsere Mitbürger, die auf unsere Unterstützung und unsere Solidarität setzen: „Wir lieben euch.““, sagt nach dem Anschlag etwa Québecs Bürgermeister Régis Labeaume. Er kämpft mit den Tränen.