Ein Anschlag wie in Ottawa kann überall auf der Welt geschehen. Auch in Deutschland, kommentiert Christian Gottschalk. Das bedeute aber nicht, dass man die Hände schicksalsergeben in den Schoß legen sollte.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart/Ottawa - Schon bald wird sich die Schockstarre lösen, die nach dem Attentat von Ottawa über Kanada liegt. Wäre die Tat zu verhindern gewesen?, wird dann zwischen Vancouver und Halifax heiß diskutiert werden. Und außerhalb der kanadischen Grenzen stellt sich die Frage, ob man selbst ausreichend vor Anschlägen dieser Art geschützt ist – oder ob man doch etwas besser machen kann, um Ähnliches vor der eigenen Haustüre zu verhindern. Es gilt eine Binsenweisheit, die nicht oft genug wiederholt werden kann: totalen Schutz gibt es nicht. Nicht in Kanada, einer liberalen, ziemlich offenen Gesellschaft, nicht in Israel, das trotz rigider Sicherheitsmaßnahmen wie wohl kein zweites westliches Land unter dem Terror leidet. Auch nicht in Deutschland, wo das Innenministerium am Donnerstag erklärt hat, dass der Anschlag von Ottawa keinen Einfluss auf die hiesige Sicherheitslage habe.

 

100 Gewaltbereite Islamisten alleine in Stuttgart

Aber natürlich könnte Vergleichbares auch bei uns geschehen. Mehdi Nemmouche, der im Mai vier Menschen im jüdischen Museum von Brüssel getötet hat, war zwei Monate zuvor über Frankfurt nach Europa eingereist. Anstatt in der belgischen Hauptstadt hätte er auch in Köln oder Hamburg seine Kalaschnikow zücken können. Und allein in Stuttgart sollen sich Experten zu Folge bis zu 100 potenziell gewaltbereite Islamisten aufhalten. Nicht jeder von ihnen ist tatsächlich ein Kandidat für den individuellen Dschihad. So bezeichnet der Verfassungsschutz die Terroranschläge von einzelnen. Gleichwohl müssten all diese Menschen ziemlich lückenlos überwacht werden, um eine Gefährdung für die Allgemeinheit zu minimieren. Das funktioniert schon nicht bei potenziell rückfallgefährdeten Sexualstraftätern, obwohl deren Zahl geringer ist. Es kann auch bei den potenziellen Dschihadisten nicht funktionieren. Davon abgesehen: selbst wenn es gelänge, so wäre Sicherheit damit noch lange nicht garantiert. Schließlich weiß niemand zu sagen, ob den Überwachungsbehörden nicht potenzielle Gewalttäter durchs Netz geschlüpft sind.

Das bedeutet nicht, die Hände schicksalsergeben in den Schoß zu legen. Es ist wichtig zu wissen, warum sich Menschen derzeit verstärkt dazu hergeben, im Namen einer Religion andere zu töten. Es ist wichtig zu wissen, wer diese Menschen sind – und es ist wichtig, rechtliche Regeln zu haben, um gegen diese Menschen vorzugehen. Um mit letzterem zu beginnen: Solche Regeln gibt es gerade im Bereich des Terrorismus zur Genüge. In Deutschland kann bereits mit Haft geahndet werden, wenn jemand zu einer Terrorgruppe wie dem so genannten Islamischen Staat oder al Kaida auch nur Verbindung aufnimmt. Sehr viel komplizierter ist es zu verstehen, was junge Menschen aus Europa oder den USA dazu bringt, die Nähe zu den Terroristen zu suchen oder sich ihnen gar anzuschließen.

IS-Kommandeur spricht von geisteskranken Westlern

Es mag in radikalen Auslegungen des Islam die Ansicht geben, dass der Dschihad in Großsyrien heiliger sei als anderswo, weil dort das Ende der Welt und die Auferstehung stattfinden. Für die meisten Westler ist das aber nicht der Ansporn für eine Kontaktaufnahme. Viele dieser Zugereisten aus dem Westen seien geisteskrank oder arm, hat ein desertierter IS-Kommandeur unlängst der „Zeit“ gegenüber erklärt. Und in der Tat ist es eine Bewegung der Verlierer, die sich da in Marsch gesetzt hat. Junge Menschen, die im Westen keine Zukunft für sich sehen, die sich nicht ernst genommen fühlen, haben nun den Eindruck, es kümmere sich endlich jemand um ihre Nöte. Allerdings zeigen Untersuchungen, dass es den vom Terror Angezogenen wirtschaftlich gesehen nicht schlechter gehen muss als Altersgenossen aus dem Umfeld. Es ist vielmehr ein diffuses Lebensgefühl der Benachteiligung, dass zur Radikalisierung beiträgt. Das ist für Außenstehende nur schwer zu fassen – und es ist noch schwerer, vernünftig dagegen vorzugehen.