Vor einem Jahr starben beim Einsturz eines mehrgeschossigen Fabrikgebäudes in Bangladesch 1135 Personen. Die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie haben sich seither kaum verbessert. Doch es gibt Ausnahmen.

Dhaka - Die schummrige zweite Etage der sechsstöckigen Fabrik stellt den Albtraum jedes Feuerwehrmanns dar. Die Gänge stehen voller Kartons, die an Kunden gehen sollen. Hitze und Staub mischen sich zu einer atemraubenden Mischung. Im Treppenhaus liegt ein Feuerlöscheimer auf den Stufen, der vielleicht einmal mit Sand gefüllt war. Hier und da liegt ein Stück Schlauch herum, das wohl einmal zu einer Feuerlöschausrüstung gehört hat. Irgendwo rattert und poltert ein Generator, dass es in den Ohren schmerzt.

 

Der Strom in Tongi, einem mit Textilfabriken durchsetzten Elendsviertel in Bangladeschs Hauptstadt Dhaka, ist wieder einmal ausgefallen. Aber im fernen Europa – die Europäische Union übernimmt rund 60 Prozent von Bangladeschs Textilexporten – warten Auftraggeber auf ihre Ware. Also schuften die Frauen in der Textilfabrik zum Takt des Generators in einem Gebäude, in dem ein Jahr nach dem Einsturz des Rana Plaza immer noch die unmenschlichen, lebensgefährlichen und kostengünstigen Arbeitsbedingungen herrschen, dank denen Bangladesch weltweit zur Nummer Zwei der Textilexportnationen avancierte.

Nur 15 Millionen bislang in den Entschädigungsfonds geflossen

1135 Frauen, Kinder und Männer starben, als am 24. April des vergangenen Jahres das aus acht Stockwerken bestehende Rana Plaza einstürzte, in dem fünf Textilfabriken eine jährliche Miete von 1,5 Millionen US-Dollar ablieferten. Sie hinterließen 800 Waisen. 2500 Arbeiter, die meisten waren Frauen, konnten sich retten. Aber viele von ihnen verloren Gliedmaßen oder sind gelähmt.

Die meisten der 28 westlichen Unternehmen, die in Rana Plaza fertigen ließen, waren schnell mit Beileidsbekundungen bei der Hand, haben aber nichts in einen Entschädigungsfonds gezahlt. Ganze 15 Millionen von erhofften 40 Millionen US-Dollar sind in einen Entschädigungsfonds geflossen, den die Internationale Arbeitsorganisation eingerichtet. Keine Familie erhielt bislang die komplette zugesagte Entschädigung.

Immer noch Fabriken in katastrophalem Zustand

Bangladeschs Textilfabrikanten versprachen nach der Katastrophe Besserung. Die Regierung, die jahrelang nur auf die Industrie gehört hatte, hob den dürftigen Mindestlohn um 77 Prozent auf immer noch dürftige 68 US-Dollar monatlich an und erlaubte die Bildung von Gewerkschaften. Modemarken, deren Image wegen der miserablen Produktionsbedingungen Schaden zu nehmen drohte, bildeten nach Kontinenten getrennt jeweils eine Vereinigung in den USA und Europa, um den knapp vier Millionen Textilarbeiterinnen des südasiatischen Landes ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.

Aber die Fabrik in Dhakas Stadtteil Tongi ist dennoch eine Katastrophe im Wartestand. „Diese Läden, die mit Wild-West-Methoden produzieren, werden sie nicht ausrotten können“, sagt der Besitzer einer Textilfabrik im Distrikt Gazipur, „es handelt sich um Subunternehmer. Sie springen ein, wenn unsere Kapazität nicht reicht.“ Weil viele Label jetzt bewusst nach „sauberen Unternehmen“ suchen, kann der Fabrikant sich mit seiner Vorzeigefabrik in Gazipur kaum vor Aufträgen retten.

Es gibt auch Vorzeigebetriebe mit Kindergarten und Teepause

Ein Angestellter führt stolz die Fabrik vor. Es gibt einen Kindergarten für den Nachwuchs der Arbeiterinnen. Es gibt Teepausen. Die Temperaturen sind auszuhalten. Die Notausgänge werden freigehalten und Hinweisschilder weisen für den Katastrophenfall die Richtung. „Vor zehn Jahren kannte hier in Dhaka niemand das Wort Mutterschaftsurlaub“, sagt der lokale Gewerkschafter Atiqual Islam, „das hat sich in manchen Fabriken geändert.“

Die Praxis sieht dennoch alles andere als rosig aus. Der regierungsamtlich verordneten Mindestlohnerhöhung folgen ganze 40 Prozent der Fabriken. „Accord for Bangladesh“, in dem sich 150 Modeunternehmen aus Europa zusammengeschlossen haben, will bis September 1500 Textilfabriken überprüfen. In Bangladesch haben sich bislang nur über 1600 der auf insgesamt 5000 geschätzten Fabriken der Allianz angeschlossen. Arbeiter, die Gewerkschaften gründen wollen, werden weiter bedroht und gefeuert. Und als kürzlich die Feuerschutzvorschriften in vier Textilfabriken bemängelt wurden, bemühten sich die Besitzer keineswegs um Verbesserungen. Sie schlossen lieber die Tore und setzten 5000 Arbeiter auf die Straße.

Manche Unternehmer klagen über Verluste

„Wir schließen wegen der ausländischen Auftraggeber“, argumentiert Shahidulla Azim, der Vizepräsident der mächtigen „Bangladesh Garment Manufacturers and Exporters Association“, „also müssen die für die Löhne der Arbeiter aufkommen.“ Der Interessenverband legte bereits seit dem ersten Tag seines Bestehens die harten Bandagen an, die aus solchen Worten spricht. Die Arbeitgeber brachten längst eine Kampagne ins Rollen, mit der Reformen verhindert oder gebremst werden sollen. Sie verlangen unter anderem, dass einheimische Inspektoren die Sicherheit der Fabriken prüfen – wohlwissend, dass sie in der Vergangenheit für eine Handvoll Geld alles absegneten, was die Textilunternehmer ihnen suggerierten.

Am lautesten aber klagen die Unternehmer, dass sie wegen der Sicherheitsauflagen nun Verluste machen würden. Ob es sich um Krokodilstränen handelt, ist schwer einzuschätzen. Aber es ist zumindest ein Fall verbürgt, in dem ein Vertreter des schwedischen H&M-Konzerns von seinen Partnern in Bangladesch höhere Löhne verlangte – und gleichzeitig seiner Zentrale in Skandinavien versprach, die Preise auf altem Niveau zu halten.

Erstmals seit Jahren schwächelt der Textilexportsektor, der mit über 20 Milliarden US-Dollar einen Anteil von rund 80 Prozent an allen Ausfuhren Bangladeschs hat. Im Januar kletterten die Exporte nur um sieben Prozent – im Vorjahr waren es noch 15 Prozent. Der Besitzer der Fabrik in Gazipur ist dennoch zuversichtlich: „Bangladesch hat so viele billige Arbeitskräfte, das wir immer konkurrenzfähig bleiben werden.“ Arbeitskräfte wie das Mädchen Arifa, dessen Mutter in den Ruinen von Rana Plaza ihr Leben ließ. „Ich will nicht in einer Kleiderfabrik arbeiten, ich habe Angst“, sagt sie, „aber wo gibt es einen anderen Job außer in einer Textilfabrik?“