Eineinhalb Jahre nach dem Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch gibt es keine Anzeichen dafür, dass sich die deutsche Textilindustrie für mehr Sicherheit in den Fabriken des Landes einsetzt.

Stuttgart - Sprünge an den Wänden und lautes Krachen deuten die Katastrophe schon am Tag zuvor an. Die Polizei evakuiert das Gebäude und sperrt es ab. Doch der Besitzer der Textilfabrik zwingt seine Mitarbeiter am nächsten Morgen zur Arbeit in den oberen Etagen – und schickt viele von ihnen in den sicheren Tod. Nach einem Stromausfall starten die Generatoren automatisch neu. Die Vibrationen bringen die achtstöckige Fabrik zum Einsturz. Tausende Menschen werden unter den Trümmern begraben. Später wird bekannt, dass das Haus gar nicht darauf ausgerichtet gewesen ist, die schwere Last der Maschinen zu tragen, sondern als Wohn- und Bürogebäude entworfen war. Die oberen vier Etagen wurden illegal aufgestockt.

 

Beim Einsturz des Gebäudes Rana Plaza am 24. April 2013 haben 1133 Menschen ihr Leben verloren; mehr als 2000 wurden teils schwer verletzt oder verstümmelt. Rana Plaza am Rande von Bangladeschs Hauptstadt Dhaka hat die internationale Aufmerksamkeit auf haarsträubende Missstände in den asiatischen Fertigungsstätten von europäischen und amerikanischen Großkonzernen gelenkt. Dadurch könnte ein Prozess in Gang gekommen sein, der die Zustände nachhaltig verbessert. Wenige Wochen nach dem Einsturz wurde das „Bangladesch Abkommen für Feuerschutz und Gebäudesicherheit“ (kurz: Accord) abgeschlossen. Es soll verhindern, dass sich ein Unglück von dieser Dimension noch einmal ereignet.

Vier Fabriken wurden wegen schwerer Mängel geschlossen

Vier Gebäude hätten das nächste Rana Plaza sein können. Ihre Namen sind MIM, Newtech, Victory und Pabna and Fakir. „Sie wurden direkt nach unseren Inspektionen geschlossen und werden auch nicht wiedereröffnet“, sagt Alke Boessiger vom Internationalen Gewerkschaftsdachverband UNI Global Union. Die Statik der Gebäude sei nicht für die Lasten ausgelegt gewesen, mit denen schwere Maschinen auf Stützpfeiler und Zwischendecken drückten, erläutert die Abteilungsleiterin, die sich gerade vor Ort einen Eindruck vom Zustand einiger Fabriken verschafft hat. Boessiger gehört dem Lenkungsausschuss des Bangladesch-Abkommens an. Die vor Kurzem abgeschlossenen Inspektionen von mehr als 1100 Fabriken und die nun anstehenden Reparaturen nennt sie eine Riesenaufgabe.

Rund 200 Ingenieure und andere Experten gehörten zum Team des kanadischen Chefinspektors Brad Loewen, das die Fabriken seit Februar auf Brandschutzvorkehrungen, elektrische Mängel und Bausicherheit untersucht hat. Anfangs, so sagt Boessiger, seien sie auf Ablehnung gestoßen, nach dem Motto: Da kommen die Leute aus Europa und Amerika, die uns sagen wollen, wie wir unsere Fabriken zu führen haben. „Wir haben ihnen gesagt: ‚Wenn ihr die Zukunft der Industrie in eurem Land sichern wollt, habt ihr keine Wahl. Wir werden nur weiter mit euch zusammenarbeiten, wenn ihr eure Fabriken sicher macht.’“ Die Einstellung der Fabrikanten habe sich in den letzten Monaten grundlegend geändert. „Nicht, weil sie uns plötzlich mögen“, sagt Boessiger offen. „Es ist das Ergebnis einer simplen wirtschaftlichen Abwägung.“

Firmen zahlen im Schnitt nur 40 000 Euro Jahresbeitrag

Finanziert wurden die Kontrollen von 189 Unterzeichnern des Bangladesch-Abkommens aus 20 überwiegend europäischen Staaten. Der Jahresbeitrag bemisst sich nach der importierten Warenmenge und beträgt maximal 400 000 Euro, im Schnitt zahlen die Firmen allerdings nur 40 000 Euro. Reparatur- und Renovierungsmaßnahmen werden damit nicht finanziert, stellt Boessiger klar. Neben den Kontrollen soll das Geld in Sicherheitsschulungen für das Personal gesteckt werden, denen allerdings noch bürokratische Schranken im Weg stehen. Bis auf wenige namhafte Ausnahmen wie Wal-Mart und Gap beteiligen sich die größten Textilkonzerne der Welt. Die Amerikaner haben sich mit zwei Dutzend weiteren Unternehmen zur Vereinigung „The Alliance“ zusammengetan, die ihrerseits knapp 600 Lieferanten überprüfen lässt. Allerdings gibt es Spannungen zwischen den beiden Organisationen. „Wir warten auf die zugesagte Herausgabe der Prüfprotokolle von Alliance“, so Boessiger.

Die eigenen Resultate fasst Accord-Chefinspektor Loewen so zusammen: „Wir haben in allen Fabriken Sicherheitsrisiken festgestellt, was zu erwarten war.“ Insgesamt 80 000 Mängel sind dokumentiert. Sie reichten von schlecht isolierten Elek-trokabeln und fehlenden oder zugestellten Notausgängen über nicht vorhandene oder defekte Feuermelder und -schutztüren bis hin zu überlasteten Böden und maroden Stützpfeilern. Bei rund 110 Inspektionen habe sich die Notwendigkeit umgehender Reparaturmaßnahmen ergeben. Alle anderen betroffenen Fabrikbesitzer haben bis zu sechs Monate Zeit für die Reparaturen. Die Kosten schätzt die Gewerkschaftsvertreterin im Schnitt auf 250 000 Euro pro Produktionsstätte, in einigen Fällen könnten sie bis zu einer Million Euro betragen.

Wie die Reparaturen finanziert werden sollen

Wie sollen Fabrikbesitzer diese Summen aufbringen? Boessiger nennt verschiedene Wege: Grundvoraussetzung sei, dass die internationalen Textilimporteure bereit sind, langfristige Partnerschaften mit ihren Lieferanten einzugehen. Über Bürgschaften könnten die Großkonzerne den Fabrikbesitzern zu zinsgünstigen Krediten verhelfen. Auch Verkürzungen der Zahlungsfristen, Vorauszahlungen für künftige Aufträge oder direkte finanzielle Hilfen wären denkbar. Mehr als 200 Zeit- und Finanzierungspläne für Reparaturen seien bereits aufgestellt. „Ein Aktionsplan, der kein Finanzierungsmodell enthält, wird nicht von uns akzeptiert“, sagt Boessiger. Auch die Beschäftigten würden über die Maßnahmen informiert: „So können sie uns Bescheid sagen, falls die Fabrikbesitzer ihren Pflichten nicht nachkommen“, sagt die Gewerkschaftsvertreterin.

Mangelnde Transparenz kann man der Accord-Foundation nicht vorwerfen: Mit Namen, Adressen und Telefonnummern sind 1558 Fabriken akribisch aufgelistet. Sie alle befinden sich in den Provinzen mit den beiden größten Städten des Landes, der Hauptstadt Dhaka und der zweitgrößten Stadt Chittagong. Auch die Mitarbeiterzahl – von wenigen Hundert bis über 10 000 – und die Anzahl der internationalen Hersteller, die in der Fabrik produzieren lassen, sind aufgelistet. In ein und derselben Fabrik können zur gleichen Zeit Kleidungsstücke für ein Dutzend verschiedene Marken genäht werden. Welche Labels dies sind, steht wiederum nicht dabei.

Kein Hersteller sagt, wie viel er in die Sicherheit investiert

So offen die Organisation, die nach Rana Plaza ins Leben gerufen wurde, mit Informationen umgeht, so verschlossen bleiben die beteiligten Unternehmen. Zu den Unterzeichnern des Bangladesch-Abkommens gehören rund 50 deutsche Firmen. Was ihnen die Sicherheit der Näherinnen in den fernen Zulieferländern wert ist, bleibt im Dunkeln. Bei zwei Dutzend Herstellern – darunter alle großen Marken von A wie Adidas bis T wie Tom Tailor – hat die Stuttgarter Zeitung nach der Höhe der Investitionen gefragt. Keines der Unternehmen nannte auch nur eine ungefähre Zahl. Jede dritte Firma reagierte gar nicht erst auf die Anfrage. Was sie in Logistik, Marketing oder Technik investieren, geben die Firmen bereitwillig preis, doch was sie für Kontrollen der Sicherheitsstandards zahlen, dringt nicht nach außen. Menschenrechtler glauben ohnehin, dass die Kosten den Fabrikbesitzern aufgebürdet würden.

Ende Oktober schlugen mehrere Nichtregierungsorganisationen wie die „Kampagne für saubere Kleidung“ Alarm: Noch immer würden die Opfer und Hinterbliebenen des Fabrikeinsturzes auf Entschädigungszahlungen warten. Ein von der internationalen Arbeitsorganisation ILO kontrollierter Fonds sei erst zur Hälfte gefüllt. Benötigt werde ein Betrag von mindestens 31 Millionen Euro. Die ökumenische Organisation Inkota kritisiert, dass mit NKD, Adler und Kids-Fashion gleich drei deutsche Firmen, die Beziehungen zu Lieferanten aus der eingestürzten Fabrik unterhielten, bis heute keinen Cent in den Fonds eingezahlt haben.

Deutsche Firmen verweigern Entschädigungszahlungen

Nur ein Unternehmen äußert sich zur Höhe von Entschädigungszahlungen: „Wir haben als einer der ersten Textilanbieter in den Fonds eingezahlt (...) und die endgültige Summe in Höhe von einer Million US-Dollar (780 000 Euro) wiederum als eines der wenigen Unternehmen transparent kommuniziert“, teilt der Discounter Kik mit. Adler weist die Kritik zurück: Man habe sich nicht beteiligt, „weil keine der dort angesiedelten Firmen ein von Adler nominierter Lieferant war“. NKD teilt mit: „Wir vertreten die Ansicht, dass zuerst diejenigen, die diese Tragödie verursacht haben, ihren Beitrag (...) leisten.“ Im eigenen „Untersuchungsbericht“ zur Katastrophe listet NKD auf 25 Seiten vor allem die Lebensumstände und Vermögensverhältnisse des Fabrikbesitzers auf. Berndt Hinzmann von Inkota ist fassungslos darüber, wie sich die Unternehmen aus der Verantwortung stehlen: „Mit Ausreden wird versucht, die Initiative kaputtzureden. Das ist aus unserer Sicht untragbar.“

Fest steht eines: die Kontrollen in den Fabriken waren nur ein erster Schritt. Erst der nächste wird verlässlich Auskunft darüber geben, ob es gelingt, die Gesundheit der Näherinnen besser zu schützen.

Beispiele für deutsche Importe aus Bangladesch

Discounter
NKD hat nach eigenen Angaben 40 Zulieferfabriken in Bangladesch. Bei KiK sind es 100 Lieferanten, von denen der Discounter 23 Prozent seiner Waren importiert. 13 Prozent des Sortiments von Ernstings Family wird bei 14 Lieferanten produziert.

Ketten
S.Oliver unterhält Lieferbeziehungen zu 34 Fabriken im Land, bei Esprit sind es 31 Nähereien, in denen zwölf Prozent der Importe entstehen. Tchibo nennt 20 Fabriken und einen Anteil von vier Prozent im Non-Food-Bereich.

Sportartikelhersteller
Bangladesch sei „kein strategisches Beschaffungsland“ heißt es bei Adidas. Lediglich drei von weltweit mehr als 1200 Zulieferfabriken befänden sich dort, der Anteil der Waren liege bei unter 0,05 Prozent. Puma lässt in Bangladesch zwölf Prozent seiner Waren bei 13 Lieferanten herstellen.