Milo Rau, der wichtigste Polit-Regisseur unserer Tage, zeigt in Zürich „The Civil Wars“. Dokumentarisch erzählt das Stück die Geschichte einer Generation, die gar nicht mehr gegen ihre Eltern rebellieren konnte, weil deren Autorität längst gebrochen war.

Zürich -

 

Ein Wohnzimmer, die Einrichtung bieder, Brauntöne dominieren. Auf einem Hocker kauert ein junger Kerl in einer Lederjacke und blickt in eine Handkamera, die an der Seite aufgebaut ist. Sein Gesicht ist in Großaufnahme und in Schwarzweiß auf einer Leinwand im Hintergrund zu sehen. Er streicht sich nervös mit der Hand über den Nacken, kippt den Kopf einige Male zur Seite, ehe er auf Französisch zu erzählen beginnt.

Im Internet habe er ein Video aus Syrien gesehen, in dem Dschihadisten einen Kämpfer des Assad-Regimes brutal hinrichten. Einer der Mörder stamme unüberhörbar aus Belgien, berichtet der Mann, der selbst in dem kleinen Land im Herzen Europas geboren worden ist. Armer Kerl, habe er sich gedacht, wie gehirngewaschen, wie irre muss man nur sein, um sich Islamisten in einem Krieg anzuschließen, der einen rein gar nichts angeht! Er hält inne, wendet den Blick kurz ab: Andererseits, fährt er dann zögernd fort, könnte es nicht noch viel wahnsinniger sein, all die grauenvollen Bilder im Fernsehen zu sehen, all die Getöteten und Gefolterten – und einfach nichts zu tun?

Hass, Gewalt, Mord – das sind Milo Raus Themen

Gleich zu Beginn formuliert „The Civil Wars“, ein Stück des Regisseurs Milo Rau, das jetzt beim Zürcher Theaterspektakel aufgeführt worden ist, eine Reihe von zentralen Fragen, die angesichts der Nachrichten über die Kämpfer des „Islamischen Staats“ kaum aktueller sein könnten: Was bewegt Menschen, die in Europa zumindest in relativem Wohlstand leben, dem Westen den Rücken zu kehren und als Dschihadist in Syrien oder im Irak zu kämpfen? Was sagt das aus über die Verfasstheit des Kontinents? Und warum versuchen wir, diese jungen Männer aus marokkanischen, syrischen oder arabischen Familien nicht zu verstehen statt sie einfach für verrückt zu erklären, weil das bequemer ist?

Rau knüpft mit „The Civil Wars“, zu sehen in der Spielstätte Rote Fabrik, an Produktionen an, die er mit dem 2007 von ihm gegründeten Arbeitskollektiv „International Institute of Political Murder“ bereits früher realisiert hat. So rekonstruierte er in „Hate Radio“ die Geschehnisse in einer Rundfunkstation, die 1994 in Ruanda den Genozid koordinierte und mit Popsongs musikalisch untermalte. In „Breiviks Erklärung“ ließ er die Ansprache, die der norwegische Massenmörder Anders Breivik vor Gericht gehalten hatte, von der deutsch-türkischen Schauspielerin Sascha Soydan auf der Bühne vortragen. Und die „Zürcher Prozesse“ behandelten den Erfolg des Rechtspopulismus in Europa. Man sieht: Hass, Gewalt, Mord sind die Themen, die Milo Rau bearbeitet.

Ein verstörender Gang durch die Biografien der Darsteller

Auf der Bühne fährt der junge Mann in Lederjacke, er heißt Sébastien Foucault, mit seiner Erzählung fort. Er habe zu recherchieren begonnen, Bücher über den Islam gelesen, sich mit radikalen Bewegungen wie dem Salafismus beschäftigt. Schließlich habe er eine Familie ausfindig gemacht, deren Sohn vor einiger Zeit sich zum Krieg nach Syrien aufgemacht habe.

Der Vater des jungen Dschihadisten berichtete Sébastien davon, wie er selbst nach Syrien aufgebrochen ist, um seinen Sohn zu suchen. Wie er in die Hände von Islamisten geraten ist, die ihn folterten, weil sie ihm seine Geschichte nicht glaubten. Und wie er mit leeren Händen nach Belgien zurückkehrte. Schlimm, denkt sich Sébastien, aber auch beneidenswert, wer einen solchen Vater hat! Einen Papa, der da ist, auch wenn man knietief im Mist steckt, der einen nicht aufgibt, sondern kommt, um einen nach Hause zu holen. Und plötzlich, ungemein jäh nimmt das Stück eine seltsame Wendung. Sébastiens Kollegen Karim Bel Kacem, Sara de Bosschere und Johan Leysen nehmen ihm Wohnzimmer Platz und reden fortan nicht mehr von Bürgerkriegen und Dschihadisten, sondern von sich selbst: ein verstörender Gang durch die Biografien der Schauspieler, die zwei Stunden lang in aller Offenheit ihre Familiengeschichten erzählen.

Eine Schau auf europäische Befindlichkeiten

Es beginnt harmlos. Man erfährt, wie die Darsteller aufgewachsen sind, woher die Familien stammen, was die Eltern getrieben haben. Es ist die Rede von marokkanischen Einwanderern in Paris, engagierten Trotzkisten in den Niederlanden, kleinen Familienbetrieben in Belgien. Alles unspektakulär. Nach und nach jedoch schleicht sich in das Alltagsleben das Grauen ein. Der eine Vater ist ein gewalttätiger Trinker, der andere kämpft jahrelang vergeblich gegen den Wahnsinn. Der dritte schließlich verliert seine Arbeit, verdingt sich in erniedrigenden Jobs und entwickelt immer mehr Schrullen, sodass sich seine Kinder in der Öffentlichkeit für ihn zu schämen beginnen.

Dokumentarisch erzählt „The Civil Wars“ also die Geschichte einer Generation, die gar nicht mehr gegen ihre Eltern rebellieren konnte, weil deren Autorität längst gebrochen war, zermalmt von der Last des gesellschaftlichen Drucks. Anschaulich und berührend zeigt das Stück, wie sich die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – die Auflösung tradierter Werte, das Scheitern politischer Bewegungen, die wirtschaftlichen Krisen – in die Biografien der Protagonisten eingeschrieben haben. Und was mit der Frage nach religiös-politischem Extremismus seinen Anfang genommen hat, endet in einer Schau auf europäische Befindlichkeiten und wird zur Zeitdiagnostik, wobei die Kehrtwende hin zum Allerintimsten aufs Höchste irritierend bleibt: Der Regisseur bittet seine Darsteller auf die Couch, damit sie dort schonungslos ihr Seelenleben ausbreiten. Das Spiel der Akteure ist reduziert, Dialoge gibt es kaum, man hat das Gefühl, einer Interview-Dokumentation beizuwohnen.

Am Ende wartet kein erlösender Fingerzeig

Trotzdem entfalten die einzelnen Episoden bisweilen eine ungeheure Intensität. Es ist schockierend, wie Sébastien davon erzählt, dass er früher oft nachts im Bett den psychotischen Vater belauschte, der rastlos durch die Wohnung tigerte. Oder wie Karim erklärt, dass er an der Stimme seines Vaters den Grad der Trunkenheit ermitteln und auf diese Weise erschließen konnte, ob ihm Prügel drohten oder nicht. Aber sind diese Schicksale, wie Milo Rau uns suggerieren möchte, wirklich exemplarisch genug, um daraus Substanzielles über die Gegenwart ablesen zu können?

Am Ende von „The Civil Wars“ wartet kein erlösender Fingerzeig. Das letzte Kapitel heißt „l’apocalypse“, es handelt vom drohenden Klimakollaps und kommenden Kriegen. Man verlässt die Rote Fabrik ratloser, als man sie zuvor betreten hat. Politisches Theater, das aufschreckt und verstört – was will man mehr?

Impulsgeber des politischen Theaters

Regisseur
Milo Rau wurde 1977 in Bern geboren. Er studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Zürich und Berlin, unter anderem bei Pierre Bourdieu. Seit 2003 ist er als Regisseur tätig. Heute zählt er zu den wichtigsten Impulsgebern des zeitgenössischen poltischen Theaters. Milo Rau lebt in Köln. Zurzeit arbeitet er an einem Filmprojekt über den Kongo.

Autor Im vergangenen Jahr erschien Milo Raus Buch „Was tun?“, dessen Titel als Reminiszenz an das Hauptwerk des russischen Revolutionärs Wladimir Iljitsch Lenin zu verstehen ist. Rau polemisiert darin gegen den postmodernden Zeitgeist, wohlfeile politische Kunst und eine Linke, die sich in der eigenen Machtlosigkeit suhlt (Verlag „Kein und Aber“, 4,99 Euro). had