Das Theater erzählt Geschichten aus dem Leben, aber wie lebt es sich eigentlich im Theater? Susanne Heydenreich ist im Theater der Altstadt aufgewachsen, das sie heute leitet. Im Interview spricht sie über die Kunst der Improvisation und über das, was sie wütend macht.

Stuttgart – - Die 17 fehlt. Susanne Heydenreich steht auf dem Kopfsteinpflaster der Brennerstraße, schaut sich um, sieht die Hausnummern 15 und 21, aber die 17 entdeckt sie nicht. Dabei besitzt die Nummer für sie eine besondere Bedeutung: Hier stand einst das Theater der Altstadt, in dem sie einen Teil ihrer Kindheit verbracht hat. Der Bau fiel unter ungeklärten Umständen einem Brand zum Opfer. Heute hat das Theater seine Heimat am Feuersee gefunden – und Susanne Heydenreich leitet das Haus, das einst ihre Eltern gründeten, als Intendantin. Im Sommerinterview spricht sie über die Kunst der Improvisation, die Gehälter von Schauspielern und über das, was sie wütend macht.
Frau Heydenreich, wo wir jetzt stehen, haben Ihre Eltern 1958 das erste freie Theater der Stadt eröffnet. Heute erinnert hier nichts mehr an diese Zeit. Wie kam es dazu?
Ich habe, obwohl ich Skrupel hatte, in die Tagebücher meines Vaters geschaut. Er war in den 1950er-Jahren Oberspielleiter am Landestheater in Tübingen, wo er meine Mutter kennenlernte. Sie wurde wegen dieses Verhältnisses damals gekündigt. Deshalb sind die beiden anschließend nach Stuttgart gegangen.
Ein privates Theater zu gründen, war mit enormem Risiko verbunden.
Alles begann mit einem Zufall. Mein Vater lernte Gottfried Müller kennen, den Begründer der christlichen Bruderschaft Salem, der in der Altstadt Bretterbaracken für Obdachlose baute. Auch in der Brennerstraße sollte eine solche Baracke entstehen. Beim Treffen mit meinem Vater schlug Gottfried ihm vor, darin das Theater der Altstadt zu begründen.
Sie wurden zu einem Theaterkind. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Ich bin im Theater aufgewachsen, habe in der Garderobe geschlafen oder im Auto, das vor dem Theater stand. Einmal bin ich ausgebüxt und im Schlafanzug raus in die Altstadt. Ich hatte Glück und traf auf einen freundlichen Herrn, der mich beim Polizeirevier in der Leonhardstraße abgab. Die Polizisten ließen mich auf einer Pritsche schlafen, bis mich meine Eltern abholten.
Wie haben Sie damals den Alltag in der Stuttgarter Altstadt erlebt?
Hier lebten Huren, Penner und Obdachlose. Ich war die Prinzessin vom Theater. Schickimicki gab es damals nicht. Irgendwann kauften meine Eltern einen Wohnwagen, um damit im Sommer nach Griechenland zu fahren. Die übrigen Monate stand er als Büro neben dem Theater. Das Theater ist aus allen Nähten geplatzt, denn meine Mutter hat immer alles aufgehoben „man könnte es ja mal auf der Bühne brauchen“. Stimmte auch oft.
Klingt sehr nach einem Provisorium.
Das Theater bestand komplett aus Holz. Es hatte 99 Plätze – ab 100 Plätzen hätten wir einen Feuerwehrmann gebraucht. Am 11. Juli 1969 um 3 Uhr nachts ist es abgebrannt.
Wie ist das passiert?
Das „Warum?“ konnte nie geklärt werden. Es war jedenfalls keine Brandstiftung, man vermutete seinerzeit einen defekten Schalter als Ursache.
Nach einer Übergangszeit zog das Theater in Räume der SSB am Charlottenplatz.
Die Eröffnung war im April 1969. Wir waren ein echtes Untergrundtheater: Kein Tageslicht, um uns war nur Beton, das war beengend. Dafür hatten wir eine Manegenrundbühne mit größeren Zuschauerraum als in der Altstadt. In den 70ern vernichtete eine Überschwemmung unseren Kostümfundus. Wir mussten also auch hier mit Widrigkeiten kämpfen.
Sie haben über einen langen Zeitraum hinweg erlebt, wie sich die Theaterszene in Stuttgart verändert hat. Nach und nach entwickelte sich eine freie Kulturszene.
Ich war sehr neugierig darauf und habe mir unter anderem Stücke in der Tribüne oder in der Rampe angesehen. Die Theater haben damals versucht, ihre Nischen zu finden. Heute empfinde ich das eher als Nachteil, weil eine Nische ein bestimmtes Publikum ausschließt.
Wie haben Sie sich von Ihrem Elternhaus und dem Theater emanzipiert?
Ich wollte auch zum Theater, musste aber erst mal einen anständigen Beruf lernen: Sekretärin. Doch das war nichts für mich. Ich fing im Theater der Altstadt als Dramaturgin und Regieassistentin an, spielte, saß vor der Vorstellung im Kostüm an der Kasse. 1982 wurde ich nach Krefeld und Mönchengladbach engagiert. Als mein Vater starb, kehrte ich nach Stuttgart zurück.
Mitte der 1990er-Jahre wurde die Intendanz des Theaters neu ausgeschrieben.
Ich dachte mir: Ich muss es versuchen, das bin ich meinen Eltern schuldig. Eigentlich hatte ich damals große Lust, zu gehen. Aber es kam anders. Es gab 49 Bewerber, und ich wurde es. Kurz danach bekamen wir das Angebot in das Theater im Westen, ein ehemaliges Kino am Feuersee, umzuziehen. Das war die Chance: Raus ans Tageslicht und ein Neustart, ohne ständig an die Vergangenheit erinnert zu werden.
Mittlerweile hat sich das Theater dort längst etabliert. Und dennoch sind die Zeiten hart: Ich erinnere mich, wie einmal nach einer Faust-Aufführung ein Mitarbeiter am Ausgang den Hut aufgehalten hat, um für den Kostümfundus zu sammeln.
Mein Denken hat sich im Laufe der Jahre verändert. Mir ist immer bewusster geworden, dass wir wirtschaftlich sein müssen. Wir haben längst kein festes Ensemble mehr – früher konnten wir aus dem vollen Schauspielerpool schöpfen, das war toll. Heute kann ich die Kollegen nur anfragen und muss damit leben, wenn sie schon ein anderes Engagement haben.
Um es im Fernsehdeutsch zu sagen: auch die Quote muss stimmen. Dieser Notwendigkeit kann sich ein Theater nicht entziehen,
Natürlich. Deswegen können wir im Sommer auch keine schwer verdaulichen Stücke zeigen. Zum Beispiel Peer Gynt: das war künstlerisch großartig, aber es hat zu wenig Publikum gefunden. So gerne ich die Welt mit meinem Theater beeinflussen will: Ich muss schauen, dass der Laden wirtschaftlich läuft, denn auch für die Arbeitsplätze trage ich die Verantwortung.
Könnten Sie das konkretisieren?
Wir haben einen Etat von einer knappen Million Euro. Davon spielen wir rund ein Drittel ein, der Rest kommt von Stadt und Land. Unser Bühnenboden knarrt entsetzlich, und wenn ein Türklinkenschloss am Ausgang kaputt geht, müssen wir überlegen, wie wir das bezahlen. Aber ich will nicht klagen, wir müssen auch die Kunst der Improvisation beherrschen.
Derzeit wird über die Sanierung der Oper diskutiert, dabei geht es um eine dreistellige Millionensumme. Macht Sie das neidisch?
Neid bringt überhaupt nichts, aber es macht mich traurig. Es stimmt mich nachdenklich, wenn die Arbeit der Kleinen nur wenig anerkannt wird.