In der Arena des Stuttgarter Schauspiels inszeniert Nuran David Calis Georg Büchners  „Dantons Tod“ als aktuelles Bürgerkriegsdrama.

Stuttgart - Sich ins Werk von Georg Büchner zu versenken ist und bleibt eines der größten Abenteuer, das die Literatur bereithält. Büchner hat nicht viel hinterlassen, er starb 1837 mit dreiundzwanzig Jahren - doch was er in dieser kurzen Lebensspanne geschrieben hat, verschlägt auch heutigen Lesern noch immer den Atem. Seine Themen sind so brennend, seine Sätze so dringlich und die Formen, in die er Themen und Sätze gegossen hat, so kühn und frisch, dass er mit seinem schmalen Werk die gesamte Moderne vorweggenommen hat. Da ist ein gewaltiger revolutionärer Schwung spürbar, auch und gerade in den drei Theaterstücken, die der genialische Jüngling verfasst hat: Mit "Leonce und Lena" stellte er die Komödie, mit "Woyzeck" die Tragödie auf ein neues Fundament - und eben das machte er auch mit dem Historiendrama, als er "Dantons Tod" schrieb. In diesem Stück mischt Büchner authentisches Material mit fiktivem, es ist also, modern gesprochen, ein Dokudrama, dessen Gestus die Stuttgarter Inszenierung kongenial aufnimmt.

 

In "Dantons Tod", seinem einzigen, zu Lebzeiten erschienenen Drama, blickt der Autor auf die Wirren der Französischen Revolution zurück. Paris, 1794: das Volk auf den Straßen tobt - und während sich die Schreckensherrschaft der Jakobiner auf ihren Höhepunkt guillotiniert, streiten die Intellektuellen im Nationalkonvent und im Wohlfahrtsausschuss, also in Parlament und Regierung, über den Fortgang der Revolution. Muss sie vollendet werden, um eine klassenlose Gesellschaft herzustellen, wie es der tugendhafte Robespierre fordert? Oder muss sie abgebrochen werden, um eine bürgerliche Republik aufzubauen, wie es sich der lasterhafte Danton wünscht? Das ist der politische Konflikt, den Büchner, strikt wie kein anderer Autor vor ihm, anhand historischer Quellen detail- und wortgenau nachzeichnet.

Was Robespierre und Danton in dem 1835 veröffentlichten Drama sagen, haben sie auch im Frühjahr 1794 gesagt und gezischt, erklärt und gebrüllt. Das ist die reale Doku, zu der sich nun das fiktive Drama insofern gesellt, als der Dramatiker die öffentlichen Szenen in Parlament und Regierung mit privaten Szenen aus privaten Gemächern ergänzt. Was da geredet und geflüstert wird, ist frei erfunden - Büchner hat, wenn man so will, mit der Moderne auch Heinrich Breloer vorweggenommen.

Die Revolte erfasst den Stuttgarter Schlossplatz

Der Regisseur Nuran David Calis scheint dieser kühnen Sichtweise nicht abgeneigt zu sein. Zusammen mit der Dramaturgin Beate Seidel hat er "Dantons Tod" bearbeitet und in der Arena herausgebracht: als Historiendrama, das aus der Vergangenheit kommt, in die Gegenwart führt und bis in die nahe Zukunft reicht, doch immer eng an Büchners Textvorlage bleibt. Calis und Seidel aktualisieren das Drama, ja, aber sie aktualisieren es sehr klug als zeitgemäßes Dokudrama, in dem aus den Unruhen der Französischen Revolution die Unruhen in den Pariser Banlieues werden, die schon bald überspringen werden auf andere Metropolen der Festung Europa. Vor der Kulisse des Stuttgarter Schlosses - es leuchtet im Bühnenhintergrund gelegentlich als imposanter Prospekt auf - kündigt sich der Bürgerkrieg des 21.Jahrhunderts an. Wir Zuschauer wissen das deshalb, weil das Inszenierungsteam in seiner hochnervösen Dramendeutung alle elektronischen Nachrichtenkanäle nutzt, um uns über das Weltgeschehen zu informieren. Dass die Wirren von heute den Wirren von gestern, als sich Robespierre und Danton bekämpften, in nichts nachstehen, ist das eine. Dass die französischen Revolutionäre mitsamt ihren Anhängern in der Mediengesellschaft angekommen sind, das andere - und so verblüffend diese beiden Befunde auch sein mögen, in der Arbeit von Calis und Seidel erscheinen sie sehr plausibel.

Vier Monitore signalisieren die neue Zeit. Über sie flimmert, was nur je über einen Bildschirm flimmern kann, denn die Regie schöpft mit subversiver Fantasie das ganze Repertoire von Videoüberwachung und Infotainment aus. Calis bemächtigt sich der "Tagesschau" und der Talkshow von "Anne Will" und bevölkert die Fernsehformate mit seinen (hineinkopierten) Dramenfiguren, er präsentiert Meinungsumfragen zu eben diesen Figuren und lässt entsprechende Balkendiagramme in die Höhe schießen, er zeigt Nachrichtenfilme von den Unruheherden und blendet auf Laufbändern weitere Horrorschlagzeilen ein: ARD, SWR und ZDF, CNN, Facebook und Twitter liefern das aktuelle Schreckensszenario, vor dem sich das Revolutionsdrama nun zeitlos abspielt.

Wenn dieses Drama auf der Einheitsbühne von Irina Schicketanz beginnt, ist Robespierre im Begriff, diese entfesselte Medienmaschine mit neuer Nahrung zu versorgen. Allein am schweren Konferenztisch im Oval Office sitzend, spricht und blickt der schwarz gekleidete Sebastian Kowski in die Kamera: Er übt eine Rede, mit der er den Mob überzeugen will, dass nur die Jakobiner die Revolution zu einem guten Ende bringen können. Doch immer wieder gerät er ins Stocken, er glaubt Geräusche zu hören, vorsichtig lauernd blickt er sich um, die Angst sitzt ihm im Nacken. Sein Gegenspieler Danton erscheint. Elegant mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte, setzt sich Christian Schmidt an den Tisch, schält aufgeräumt eine Orange und eröffnet einen Disput, auf den an diesem Zweistundenabend noch viele weitere folgen werden.

Phrasen kommen aus Mündern und Monitoren

Zugegeben, diese Dispute, diese auf höchstem rhetorischem Niveau flink geführten Streitgespräche über den Sinn der Geschichte und das Glück der Menschheit, können anstrengen. Büchners Drama ist ein Ideendrama ohne große Handlung. Die Akte, die hier stattfinden, sind Sprechakte - und dass man ihnen in Stuttgart gerne folgt, liegt nun nicht allein an der unverminderten Aktualität des Revolutionsstoffs, sondern auch an der Klarheit und Transparenz, die er in diesem Dokudrama gewinnt. Den Spielern - neben Kowski und Schmidt noch Mike Adler, Jan Krauter und Till Wonka sowie Minna Wündrich, Lisa Bitter und Svenja Wasser - gelingt nämlich ein Kunststück. Allesamt führen sie zusammen, was in anderen, schlechteren Inszenierungen auseinanderstreben würde. Organisch gleiten sie vom Politischen ins Philosophische und vom Privaten ins Existenzielle. Genau darauf, aufs Existenzielle und Exemplarische von Dantons Tod, zielt das ganze Spiel am Ende auch ab.

Dieses nihilistische und auch fatalistische Endspiel bestreitet Danton allein. Unter dem Bombardement der Phrasen, die aus Mündern und Monitoren kommen, haben sich die politischen Fronten längst verwischt. Die Geschichte nimmt auch ohne menschliches Zutun ihren Lauf. Des Kämpfens müde kauert Danton auf einem Stuhl und träumt nur noch von der Ruhe des Grabs: die einzige Utopie, die ihm geblieben ist. Und wenn man nun bedenkt, dass in diesen Tagen ganze Despotenreiche in sich zusammenstürzen, erkennt man eine weitere Stärke dieser Inszenierung von Nuran David Calis: Sie gibt sich keiner Revolutionsromantik hin. Sie gibt Contra.

Weitere Aufführungen in der Arena in der Türlenstraße fast en suite bis zum 24. April.