Auch die Vernunft muss mal Urlaub machen: Am Donnerstag geht im „Erdgeschoss“, der Bar in der Theodor-Heuss-Straße, der letzte „Absacker“ des Stuttgarter Schauspiels über die Bühne. Die Tollheit dieser Trash-Show wird uns fehlen.

Stuttgart - An diesem Ort wird Geschichte geschrieben. Und wie! Total durchgeknallt, absolut einzigartig und selbst in der Nacherzählung vom gesunden Menschenverstand kaum zu fassen! Einfach irre, diese Theater-Nonsens-Storys, doch wir versuchen jetzt trotzdem mal, einen Eindruck vom surrealen Embryonen-Drama zu vermitteln, das unlängst im „Absacker“ lief. Es hieß „Im Bauch meiner Mutter“ und ging im Februar über die Bühne des Erdgeschosses, dieser kleinen Bar in der großen Theodor-Heuss-Straße.

 

Als säße er mitten in einer Festung aus Wolle, lugt der Schauspieler Dino Scandariato aus einem voluminös raumgreifenden Frauenrock. Er spielt die unglaublich fette Mutter und lässt sich, um sich die mit Stolz getragene Fettleibigkeit zu bewahren, vom Vater füttern. Der Rock hebt sich – und darunter kauert Sebastian Röhrle, der erwachsene Sohn, der sich freilich seit 42 Jahren weigert, den Bauch der von ihrer Dauerschwangerschaft nichts ahnenden Mutter zu verlassen. Daher also ihr enormer Umfang, aber auch ihre enorme Gabe fürs Schreiben. Die dicke Mamma legt nämlich Jahr für Jahr einen Bestseller vor, den sie – und jetzt wird auf der Klubbühne das Geheimnis der Produktivität gelüftet – allerdings nicht wirklich selbst verfasst, sondern unwissentlich von ihrem unbekannten Sohn verfassen lässt. Sie indes haut die Werke dann nur noch hinten aus dem Mutterleib raus, ja, richtig, sie kackt die Welt mit ihren Büchern förmlich zu – und während Sebastian Röhrle diesen Unsinn aus dem Mutterbauch jetzt rekapituliert, kommt er sich als Chefmoderator des „Absackers“ wie ein Münchhausen vor, der unter postmoderne Trash-Apologeten gefallen ist: So ein Quatsch! Schwanger mit einem 42-jährigen Erfolgsautor! Welches Hirn hat sich das bloß ausgedacht? Meines?

Ja, seines. Der Schauspieler selbst war es, der als Autor diese in ihrem Irrwitz famose Geburtsgroteske ausgebrütet hat. „Im Bauch der Mutter“ hat er an zwei, drei Tagen geschrieben und auf die Schnelle schludrig mit den Kollegen geprobt, am Nachmittag unmittelbar vor der Vorstellung. Aber genau darin lag und liegt ja der Reiz der schrägen und schrillen Shows: im absichtsvoll Nichtperfekten, im kunstvoll Dilettantischen, im ständigen Augenzwinkern mit dem Publikum, das seinerseits das Trashformat des Schauspiels von Anfang an mit Begeisterung aufgenommen hat. Den „Absacker“ im Erdgeschoss, Theo-Heuss-Straße 4, gibt es seit fünf Jahren an jedem zweiten Donnerstag im Monat. Und seitdem ist er auch immer ausverkauft. Ein Riesenerfolg! Wahnsinn! Aber es hilft alles nichts. Morgen ist Schluss: Die 42. Ausgabe wird vorerst auch die letzte sein.

Im Schauspiel steht eine Zeitenwende an

Das Aus für den „Absacker“ hängt mit der Zeitenwende im Schauspiel zusammen. Hasko Weber geht, Armin Petras kommt – und ob der neue Intendant an dieser Spielwiese der Absurditäten noch Interesse hat, weiß Sebastian Röhrle nicht. Weber indes konnte sich für das neue Format sehr erwärmen, damals in der Spielzeit 2008/09, als Röhrle zusammen mit dem Dramaturgen Frederik Zeugke und der Regisseurin Catja Baumann an den Intendanten heran trat. „Wir wollten eine Spielstätte für Merkwürdigkeiten gründen“, erinnert sich der Chef-Absacker, „Merkwürdigkeiten, die nur außerhalb des gängigen Repertoires stattfinden konnten.“ Und ein Ort für die aparte Idee existierte schon, eben das Erdgeschoss an der Stuttgarter Partymeile, dieser sympathisch bodenständige Klub, den das Theater ja auch außerhalb des „Absackers“ als Spielstätte nutzte – eine Kooperation, die nicht von ungefähr kam: Der Klubbetreiber ist niemand anderes als Dino Scandariato, von Hause aus Schauspieler und eben auch Röhrles Bühnenpartner in der Geburtsgroteske. Und so, wie die beiden auf der Bühne eine Familie sind, wenn auch eine merkwürdige, sind sie’s auch überhaupt im „Absacker“. Neben dem 43-jährigen Röhrle ist der drei Jahre jüngere Scandariato der Kopf des Unternehmens.

Gemeinsam sind sie stark – und so voller Schaffensdrang, dass Röhrle & Scandariato, unterstützt von Spielern aus dem Ensemble, im Erdgeschoss tatsächlich ein neues Reich gegründet haben: ein Reich der Sinnfreiheit, in dem der Verstand Urlaub machen und das Gehirn Gassi gehen konnte. Und natürlich bildete das Volle-Kanne-Comedy-Programm auch einen strengen Kontrast zur Ernsthaftigkeit, die sonst im Schauspiel herrschte – mit der Folge, dass just der vergnügliche „Absacker“ das Spektrum der Weber-Intendanz aufs Erfreulichste erweitert hat. Zur disziplinierten Debatte kam hier das undisziplinierte Geblödel, zum strammen Engagement die selige Entspannung. Und die Frage stellt sich: War da im Erdgeschoss doch, bei aller herrlichen Unvernunft, eine höhere dramatische Vernunft mit List am Werk?

Tolle Stunden unbeschwerter Heiterkeit

Klar, mit sinnfreiem Trash geht kein Intendant in die Ewigkeit der Theaterwelt ein, aber tolle Stunden unbeschwerter Heiterkeit hat der „Absacker“ dem enthusiasmierten Publikum ohne Unterlass geboten. Zum Beispiel mit der von Sarah Sophia Meyer gespielten „Lesenutte“, der man nur einen Sekt spendieren musste, um im Separee von ihr einen gelesen zu bekommen. Oder mit Matthias Kelle, der ein Domina-Studio besuchte und dort, als wär’s die „Sendung mit der Maus“, mit kindlicher Freude auf Entdeckertour ging. Oder eben mit den Chefs selbst, mit Röhrle & Scandariato, die zuletzt im abermals selbstgebastelten Volksstück „Mama ist tot“ auf sexual-kannibalische Art völlig grotesk absackten. Großartig! Und so, großartig, einmalig, unvergesslich, soll die Reihe morgen enden. Mit der Vollsperrung der Theo-Heuss habe es zwar nicht geklappt, sagt Röhrle traurig, aber ein „gigantisches Event“ verspricht er den Zuschauern trotzdem: mit eingebauter Publikumsbeschimpfung und musikalischen Überraschungsgästen, deren Liedvortrag garantiert feuchte Augen hinterlassen werde. Ob vom Lachen oder vom Weinen, egal: Tränen lügen nicht. Wir werden den Absacker schmerzlich vermissen.