Das Ensemble Lokstoff begibt sich mit der „Linie Dix“ auf einen nächtlichen Trip durch Stuttgart – fährt aber an der sozialen Wirklichkeit vorbei.

Stuttgart - Heute haben sie Ausgang. Die Gemalten verlassen den engen Rahmen ihrer Leinwände, spazieren hinaus auf die Straße, fahren U-Bahn, grölen, tanzen, singen. Die Besucher im Stuttgarter Kunstmuseum trauen ihren Augen nicht. Die da kreischrot gewandet und bleich geschminkt umherstolziert, das ist doch Anita Berber, von Otto Dix verewigt! Lebende Bilder haben in Kunst- wie Literaturgeschichte eine lange Tradition, die jetzt das Lokstoff-Theater aufgreift.

 

„Linie Dix“ überschreibt sich die neue Produktion der auf ungewöhnliche Spielstätten spezialisierten Gruppe. Die dramaturgisch locker verknüpfte Soiree beginnt im Glaskubus. Dort, wo neben dem bekannten Porträt der Tänzerin Anita Berber auch Dix’ noch bekannteres Triptychon „Großstadt“ hängt, das den eigentlichen Inspirationsgeber des Stationenspiels darstellt.

Möglichst effektvoll aus dem Leben scheiden

Das Ambiente der Zwanziger aufzugreifen gelingt dem Stück gut: Mit Federboa und Ballkleid, Frack und viel Pomade schickt die Inszenierung von Wilhelm Schneck ihre Akteure dem kostümierten Anschein nach auf eine Zeitreise, die aber zugleich ein nächtlicher Trip durchs das heutige Stuttgart ist.

Geführt von Anita Berbers Wiedergängerin, verlassen wir das Museum, um am Schlossplatz in die beiden gemütlich beleuchteten Waggons der „Linie Dix“ einzuchecken. Planmäßig dauert die SSB-Sonderfahrt zwei Stunden, bei der Premiere am Freitag sorgte die Zufallsregie eines Weichenschadens dann noch für ein ungeplantes retardierendes Element. Frau Berber weckt unsere Neugier für einen Selbstmörderwettbewerb auf dem Killesberg, veranstaltet von einem exklusiven Millionärsclub. Die zugrundeliegende Textcollage stützt sich auf Werke von Karl Valentin, Erich Kästner und Kurt Tucholsky (alles Zeitgenossen von Dix), anachronistisch gebrochen durch Heiner Müllers „Herzstück“. Leider fehlt im Begleitheft fast jede Info zu diesem Reigen, insbesondere zu Johannes Ilmari Auerbach. Durch die Geschichte vom Selbstmörderwettbewerb, die der vergessene Autor 1921 schrieb, erhält der Abend seinen einzigen roten Faden. Auerbachs Groteske entlarvt den Zynismus jener Spektakelgesellschaft, deren Wurzeln tatsächlich in den zwanziger Jahren liegen. Lokstoff hat die Vorlage zu einer Art Stadionreportage umgearbeitet. So ist man zwischen den anderen Nummern akustisch live dabei, wie Menschen im Kampf um ein Preisgeld versuchen, möglichst effektvoll aus dem Leben zu scheiden. Mit Harakiri, Säureschlucken und schrittweiser Selbstverstümmelung.

Die soziale Wirklichkeit wird ausgeblendet

Hier, aber nur hier, wird die Regie ihrem eigenen Anspruch gerecht. „Die Bilder von Dix stehen für einen schonungslosen, unerschrockenen Blick auf die Wirklichkeit“, heißt es im Programmheft. Mit der sozialen Wirklichkeit im Stuttgart wie im Deutschland des Jahres 2014 allzu hart ins Gericht zu gehen scheute sich die Großstadtrevue allerdings. Stattdessen Liebeswehwehchen und existentielle Unbehaustheit im schnellen urbanen Lebenstakt, in dem jede Begegnung flüchtig bleibt. Dix aber war humanistischer Materialist, mehr am Fressen als an der Moral interessiert. Lebte er in unserer Zeit, er würde rumänische Auftragsbettler malen, die auf körperbehindert machen, die Obdachlosen im Stuttgart der Haifischmieten oder zum Flatratefick gezwungene Sexsklavinnen.

Davon indes wollte sich das Varieté auf Schienen nicht in die Retrosuppe spucken lassen. Den Schauspielern Vorwürfe zu machen wäre unfair, besonders Lisa Scheibe als Anita Berber überzeugt. Pluspunkte gibt es auch für den Reporter vom Suizid-Wettkampf, dem Tom Bartels seine Stimme lieh. Der gestandene WM-Berichterstatter brüllt die blutigen Ereignisse so enthusiastisch aus den Lautsprechern heraus, als wäre gerade das 1:0 im Endspiel gefallen. Ansonsten jedoch ist die „Linie Dix“ nur ein nostalgisches Bimmelbähnchen, in dem man uns formvollendet den Charleston oder einen anderer Trendtanz der Roaring Twenties hopst – und mehr nicht.