Milo Rau gehört zu den wichtigsten Theaterregisseuren Europas. In Zürich plant er seinen nächsten Coup: „Salò oder Die 120 Tage von Sodom“ nach dem Skandalfilm von Pier Paolo Pasolini. Mit dabei als Opfer sadistischer Rituale: geistig behinderte Schauspieler. Ein Probenbesuch.

Stuttgart - Kann man einen Skandal vorbereiten, ohne dabei die geringste Spur von Nervosität zu zeigen? Man kann. Entspannt beobachtet Milo Rau, einer der wichtigsten Regisseure Europas, das Geschehen auf der Probebühne, die mit Samttapete, Polstersessel und Polsterstuhl einen großbürgerlichen Salon zeigt. Darin sitzen der Herzog von Blangis, seine Tochter Susy, der Präsident Curval sowie der Steuerpächter Durcet mit „dem winzigen Penis“ – vier von Schauspielern des Züricher Theaters verkörperte Vertreter eines untergehenden Regimes, die ihre Macht ein letztes Mal auskosten wollen: In ihrem Schloss werden sie alsbald junge Männer und Frauen sadistischen Ritualen unterziehen. In aller Drastik, in aller Perversität, in aller sexuellen Explizitheit – und als wär’s nicht genug der sich anbahnenden Bühnenprovokation, werden die gedemütigten, vergewaltigten, gefolterten Opfer auch noch von geistig behinderten Darstellern gespielt. Ihnen, ausgerechnet ihnen, den überwiegend am Down-Syndrom leidenden Mitgliedern des Hora-Ensembles, weist Rau die radikale Entblößungen fordernde Opferrolle zu. Geht’s noch?

 

Das Stück, das der Regisseur gutgelaunt mit seinem gemischten Ensemble probt, beruht auf einem Skandalfilm. Pier Paolo Pasolinis 1975 gedrehte Gewaltstudie „Salò oder Die 120 Tage von Sodom“ ist in Deutschland nur in einer zensierten Fassung erhältlich. Zeitweise war der Film ganz verboten und beschäftigte die Gerichte in halb Europa: In seinem letzten Werk schreckt der italienische Autorenfilmer vor nichts zurück, nicht vor Analverkehr, nicht vor einem Hochzeitsmahl mit Kot, nicht vor der Skalpierung eines jungen Mädchens. Dies und noch viel mehr hält die Kamera des kurz vor dem Filmstart bestialisch ermordeten Pasolinis fest. „Bei uns wird es so hart und krass wie im Original zugehen“, sagt der unerschrockene, zuletzt mit dem „Welttheaterpreis“ des internationalen Theaterinstituts geehrte Rau dem Probenbesucher: „Allerdings sehen Sie jetzt nur den soften Einstieg.“

Was geschieht im Orgienzimmer?

Vom Balkon des mit bourgeoisen Sadisten gefüllten Salons verkündet der nichtbehinderte Schauspieler Matthias Neukirch den kasernierten Jungmännern und Jungfrauen die Gesetze: „Jeden Abend um sechs findet sich die ganze Truppe im Orgienzimmer ein, wo die Dame an meiner Seite eine Reihe von Geschichten zu einem bestimmten Thema erzählen wird. Nach den Geschichten gehen wir zur Feier über, Orgie genannt“ – und schon tönt ihm aus den Opferreihen in naiver Erwartungsfreude ein „Hammergeil“ entgegen, ausgestoßen von Noha, einem Mitglied der renommierten, in Zürich beheimateten Horas, die in weltweit gefeierten Inszenierungen ihre Handicaps zum Thema machen. „Hammergeil, hammergeil“, ruft der 22-jährige Schauspieler immer wieder, auch noch lange nach der Eröffnungsszene, in der Neukirch alias Durcet mit Winzpenis erklärt, dass die Schlossrituale immer „ekelerregender, schmerzhafter und tödlicher“ werden. „Hammergeil, hammergeil, hammergeil“ ruft Noha weiter unverdrossen – er scheint sich an dem Wort und an dem Verspechen, das es vorwegnimmt, zu berauschen.

Wissen die behinderten Schauspieler, worauf sie sich mit der Inszenierung eines der umstrittensten Werke der Filmgeschichte einlassen? Und warum arbeitet Rau just bei diesem prekären Missbrauchs-Stoff überhaupt mit den Hora-Leuten zusammen? Andere Regisseure würden bei diesen Fragen ins Straucheln geraten, doch der 1977 in Bern geborene, in Köln lebende, mit Preisen überhäufte Theatermann beantwortet sie mit großer Souveränität – und mit einer immer wieder von jugendlichem Auflachen flankierten Selbstsicherheit, die nahe legt, dass er die Tragweite seiner Arbeit in jeder Phase überblickt. „Bei den heiklen Szenen hat es anfänglich Diskussionen mit den Schauspielern gegeben. Aber als sie kapiert haben, welche Absichten ich mit der Inszenierung verfolge, sind sie manchmal noch weiter gegangen als von mir geplant. Das ist bei behinderten Schauspielern nicht anders als bei nichtbehinderten“, sagt Rau. Die Behinderung der Darsteller, die in seiner Pasolini-Adaption die Opfer spielen, ist ihm aber trotzdem wichtig. „Nur mit Ensembleleuten des Schauspielhauses würde ich das Projekt nicht umsetzen. Da würden unsere Fragestellungen theoretisch, vielleicht auch eitel wirken. Mit behinderten Schauspielern aber werden sie zwingend: Wie und warum kommt es zur Vernichtung des Abweichenden?“

Die Horas sind die Letzten ihrer Art

Mit dieser Frage landet der Regisseur tatsächlich im Zentrum von Pasolinis Gedankenwelt. Nicht nur in Filmen, auch in journalistischen und literarischen Texten hat der italienische Intellektuelle – katholisch, kommunistisch, schwul – dem Subproletariat seiner Heimat ein Denkmal gesetzt. Pasolinis Liebe und Solidarität gehörte den in den Vorstädten gestrandeten Arbeitern und Bauern, den Zuhältern und Prostituierten, Menschen am Rand der Gesellschaft, die in ihrem ganzen Elend, aber auch in ihrer ganzen Vitalität noch Menschen mit Gesichtern und Geschichten waren – und eben keine uniformierten Konsumenten, wie sie der Kapitalismus hervorgebracht hat. Wenn Rau nun in den „120 Tagen von Sodom“ den modernen Normierungswahn untersucht, hat er Pasolinis Kulturkritik im Gepäck – und behinderte Menschen, die dieser Normierung immer häufiger zum Opfer fallen, im Sinn: „Seit der Legalisierung der Pränataldiagnostik werden 90 Prozent aller mongoloiden Föten abgetrieben, eine Versündigung am Leben im Namen der Entscheidungsfreiheit des Individuums, das sich dem Kult der Leistungsfähigkeit unterwirft“, so der Regisseur: „Neun von zehn zukünftige Horas werden totgespritzt und sind weg.“ Seine Arbeit mit Down-Syndrom-Spielern sei deshalb auch eine Arbeit mit Betroffenen: Nicht nur auf der Bühne, auch im Leben drohe ihnen die Vernichtung.

„Ihr seid die Letzten eurer Art“ heißt es im Stück – und der Mann, der diesen bitteren Satz zu Horas auf der Bühne sagt, ist der Großschauspieler Robert Hunger-Bühler, einer der vier Darsteller aus dem Züricher Schauspielhaus. Aber er sagt das nicht in seiner Rolle als Herzog von Blangis, sondern als Robert, als Privatmensch hinter der Rolle des „pathologischen Monsters“, als der sich der Herzog entpuppt. Denn natürlich will Rau den Pasolini-Schocker nicht eins zu eins nachspielen, natürlich will er nicht nur auf blutigen Naturalismus setzen, sondern auch auf die Künstlichkeit des Theaters, das über sich selbst und seine behinderten und nichtbehinderten Darsteller nachdenkt. „Wir wollen den Film transzendieren“, erklärt der umtriebige Rau, der in seinen 39 Lebensjahren schon viele Themen transzendiert, in andere Erfahrungsbereiche übertragen hat. Im Kongo inszenierte er das „Kongo-Tribunal“ zum dort herrschenden Bürgerkrieg, in Moskau zeigte er die „Moskauer Prozesse“ rund um die Inhaftierung der Pussy-Riots-Aktivistinnen – und derzeit tourt er nicht nur mit seiner „Europa-Trilogie“, der Psychoanalyse eines von Kriegen und Flüchtlingsströmen erschütterten Kontinents, durch die westliche Welt, sondern auch mit den „Five Easy Pieces“, worin Kinder auf so berührende wie grauenvolle Weise die Geschichte des Kinderschänders Marc Dutroux nachspielen.

Die „Five Easy Pieces“ machen hier und dort Skandal, werden aber trotzdem von Zuschauern und Kritikern euphorisch gefeiert. Ob es den „120 Tagen von Sodom“ ähnlich ergehen wird, muss sich weisen. Zum produktiven Tabubruch ist jedenfalls alles angerichtet.