Schon als Kind wusste Kim Schicklang, dass sie im falschen Körper steckt. Transsexualität ist für sie heute Normalität, für ihre Umwelt nicht. Doch Kim Schicklang wehrt sich – auch dagegen, dass Transsexualität immer noch als psychische Störung gilt.

Ludwigsburg - Jemanden wie sie darf es nicht geben. Was sie empfindet, ist reine Einbildung, ein Hirngespinst. Solche Sätze hat sich Kim Schicklang immer und immer wieder anhören müssen. Von Psychologen, Ärzten, Freunden und Bekannten. Doch wenn sie in den Spiegel schaute, dann wusste sie: Sie alle haben unrecht, denn das, was die anderen in ihr sahen, war nicht das, was sie war. Sie sah aus wie ein Mann, dabei war ihr klar, dass sie eine Frau ist.

 

Diese Gewissheit trug sie schon immer tief in sich. Als Kind wunderte sie sich, warum die anderen Mädchen keinen Penis hatten. Damals war das kein Problem. Das kam erst mit der Pubertät – und in den vielen Jahren danach, in denen sie versuchte, ihr Äußeres mit ihrem Inneren in Einklang zu bekommen. Mit Anfang 30 war Kim Schicklang so weit, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Sie wollte ihre Mitmenschen nicht mehr „durch die nicht-stimmige Verpackung täuschen“, wie sie sagt. Sie wollte einen weiblichen Körper. Doch der Weg dorthin war für sie die Hölle, nicht wegen der Hormone oder der Operationen, sondern wegen des Umgangs mit ihr.

Das DSM legt fest, wer als psychisch krank gilt

„Das Problem ist, dass Transsexualität als psychische Störung gilt“, sagt Kim Schicklang. Transsexuelle müssen eine Diagnose vorweisen, wenn sie ihre Behandlung von der Krankenkasse bezahlt haben wollen. Eine Grundlage für diese Krankheitsbestimmung ist ihre Definition in dem amerikanischen Medizinhandbuch „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM). Dieses vom amerikanischen Psychiatrieverband herausgegebene Standardwerk legt weltweit fest, wer als psychisch krank gilt und wer nicht. In Deutschland stützen sich medizinische Diagnosen zwar auf das sogenannte ICD 10, ein Regelwerk der Weltgesundheitsorganisation, aber auch das wird von den Begriffsklärungen im DSM stark beeinflusst.

Bisher fiel die Transsexualität in die Kategorie der „Geschlechtsidentitätsstörung“, was Betroffene wie Schicklang als stigmatisierend empfanden. „Wir haben keine psychische Krankheit“, stellt sie klar, „sondern eine geschlechtliche Variation“. Und die habe körperliche Ursachen. Die 40-jährige Radiomoderatorin aus Ludwigsburg kämpft seit Langem dafür, dass Transsexuelle nicht mehr als psychisch Kranke gelten, die geheilt werden müssen. Sie ist auch die Sprecherin der Aktion Transsexualität und Menschenrechte, ein landesweites Netzwerk für trans- und homosexuelle Initiativen, das im vergangenen Jahr gegründet wurde.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Bis vor Kurzem hatten sie und ihre Mitstreiter noch die leise Hoffnung, dass Transsexualität in der neuen, fünften Version des DSM nicht mehr gelistet wird – und damit nicht mehr als psychische Störung gilt – vergebens. Jüngst wurde das DSM 5 auf einer Tagung in den USA vorgestellt. Zwar fällt Transsexualität künftig nur noch unter „Geschlechtsdysphorie“, gilt also als eine Art Unwohlsein mit dem eigenen Geschlecht, aber für Schicklang ist der Fortschritt gleich null: „Das neue DSM ist alter Wein in neuen Schläuchen.“ Eigentlich sei es sogar ein Rückschritt, weil durch den weiter gefassten Terminus noch mehr Menschen als psychisch krank abgestempelt würden. „Wir müssen uns nun dafür einsetzen, dass dieser Trend, die Psychopathologisierung zu erweitern, gestoppt wird“, sagt Kim Schicklang.

Die neue Bezeichnung wird auch nichts am Prozedere ändern, das jene erwartet, die ihre Behandlung von der Krankenkasse erstatten lassen wollen. Sie müssen sich zunächst in eine Psychotherapie begeben und die Transsexualität bescheinigen lassen. Kim Schicklang schildert die Abläufe: „In der Therapie muss ich akzeptieren, dass ich eine Krankheit habe und komisch im Kopf bin. Dann wird über einen längeren Zeitraum beobachtet, ob der Zustand der Verwirrtheit anhält. Wenn ich nach 18 Monaten noch immer glaube, dass ich eine Frau bin, obwohl ich es nicht bin, ist die Operation die Ultima Ratio.“ Für Schicklang ist das reine Schikane: „Wenn ich endlich weiß, zu welchem Geschlecht ich gehöre, wird von mir verlangt, dass ich mich verleugne.“

Transsexuelle wünschen sich lieber eine körperliche Diagnose

Nicht alle Experten können ihre Kritik nachvollziehen. So wie Friedemann Pfäfflin, ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Pfäfflin hat sich mehr als 40 Jahre lang mit dem Thema Transsexualität beschäftigt, er hat bei der Entwicklung des DSM 5 mitgewirkt und gilt als Koryphäe auf dem Gebiet. Er erinnere sich gut daran, wie Betroffene in den 80er Jahren vehement dafür gekämpft hätten, dass Transsexualität als Krankheit anerkannt wird, sagt er. „Denn die Diagnose ist ja die Voraussetzung dafür, dass entsprechende Behandlungen von den Krankenkassen bezahlt werden.“ Die Transsexuellen würden sich aber lieber eine körperliche Diagnose wünschen, weil sie sich dann weniger stigmatisiert fühlten. Pfäfflin hält diesen Wunsch für unerheblich – und die Klassifizierung nur für ein Mittel zum Zweck.

Allerdings hält auch Pfäfflin die Krankenkassen für zu kategorisch. Eine Psychotherapie im Vorfeld der Behandlung ist auch aus seiner Sicht nicht bei jedem notwendig. Es gebe ohnehin nicht viele Therapeuten, die sich mit dem Thema auskennen würden, sagt er. Die Gefahr sei groß, dass Unkundige versuchten, den Betroffenen die Transsexualität abzutrainieren.

Die Krankenkassen bestehen auf eine Diagnose

Bei den Krankenkassen scheinen die Vorgaben in Stein gemeißelt. „Die Grundlage dafür, dass die Kasse bezahlt, ist das Vorliegen einer Krankheit“, sagt Florian Lanz, der Pressesprecher des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherungen. Nur die Geburt sei eine Ausnahme. Selbst eine Brustverkleinerung oder Brustvergrößerung werde nur bezahlt, wenn es eine psychische Indikation gebe, wenn der Patient also extrem unter den Gegebenheiten leide. „Schließlich ist unsere Kernaufgabe, Krankheiten zu kurieren“, so Lanz.

Hertha Richter-Appelt hat hingegen Verständnis für jene, die sich gegen die Diagnose „psychische Störung“ wehren. „Theoretisch könnte man sagen, dass Transsexualität eine körperliche Erkrankung ist – wie eine Blinddarmentzündung zum Beispiel“, sagt die stellvertretende Direktorin des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. „Ich habe so viele Transsexuelle gesehen, die voll im Leben stehen und einzig und allein im anderen Geschlecht leben wollen. Ich kann nicht sagen, dass es eine psychische Störung ist.“ Andererseits könne sie nachvollziehen, dass Chirurgen ein Gutachten sehen wollen, bevor sie eine irreversible Genitaloperation durchführen. „Sie wollen sich einfach absichern“, so Richter-Appelt.

Mit Gutachten verdient man auch gutes Geld

Auch die Rechtsanwältin Deborah Reinert, die bundesweit die Rechte von Transsexuellen vertritt, hält die vielen Vorgaben für übertrieben. „Meiner Meinung nach macht erst das ganze Verfahren die Transsexuellen krank“, sagt sie. Wer in Deutschland beispielsweise sein rechtliches Geschlecht ändern will – also den Vornamen sowie den Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde –, der muss zwei psychologische Gutachten vorlegen. Diese müssen die Transsexualität sowie eine hohe Wahrscheinlichkeit bestätigen, dass sich daran nichts mehr ändern wird. Für die Kassen bedarf es darüber hinaus einer 18-monatigen Psychotherapie, auch wenn der Betroffene seinen Personenstand geändert und damit seinen Willen bekundet hat, im anderen Geschlecht zu leben.

Reinert glaubt, dass diese Praxis auch wirtschaftliche Gründe hat: Mit den teuren Gutachten werde gutes Geld verdient, sagt sie. Zudem seien Transsexuelle eine Minderheit und damit für die Politik nicht interessant. Daher seien Forderungen in dem Bereich schwer durchzusetzen. Auf der anderen Seite müsse man aufpassen, dass der Bogen nicht überspannt werde, sagt sie weiter, denn im Prinzip sei es ja gut, dass die Behandlungen bezahlt würden. „Wem wäre geholfen, wenn die Transsexuellen völlig eigenverantwortlich dafür aufkommen müssten?“, so Reinert.

Schicklang geht es um mehr: um gesellschaftliche Anerkennung. Der einzige Weg, die Stigmatisierung zu beenden, müsse dahin führen, dass Menschen wie sie nicht mehr als gestört gelten, sagt sie. „Das größte Problem der Transsexuellen“, so Schicklang, „das ist die Welt um sie herum.“