Heftige Proteste begleiteten die Preisverleihung an Daniel Cohn-Bendit. Der Vorwurf pädophiler Neigung haftet an ihm. Aber die Verleihung zeigt, dass er ein seltenes Exemplar politischer Leidenschaft ist. Auch Ministerpräsident Kretschmann findet die richtigen Worte.

Der Ministerpräsident muss weiter, ein Ministerpräsident muss immer weiter. Winfried Kretschmann schiebt sich im Foyer eilig, aber entschlossen eine halbe Butterbrezel in den Mund, Mannheim wartet, während oben im Weißen Saal des Stuttgarter Neuen Schlosses Daniel Cohn-Bendit, der neue Träger des Theodor-Heuss-Preises, von der Bühne steigt. Die halbe Hundertschaft Demonstranten draußen vor der Tür hat sich schon lange im Nieselregen verloren, die Preisverleihung zog sich hin, denn der Vorwurf, Cohn-Bendit sei vor fast vier Jahrzehnten unkeusch mit kleinen Kindern umgegangen, bedurfte doch eines erheblichen rhetorischen Aufwands, um freundlich verpackt und irgendwie aus der Welt befördert zu werden.

 

"Es war eine würdige Veranstaltung"

Der Ministerpräsident befindet, dass das ganz gut gelungen sei. Sicher, die Anschuldigungen würden wohl auch künftig immer wieder auflodern, aber eine Täterschaft, die über die Inszenierung eines Tabubruchs hinausgehe, sei doch ausgeschlossen. „Das ist klar geworden“, sagt Kretschmann. „Es war eine würdige Veranstaltung.“ CDU und FDP hatten in den zurückliegenden Tagen nichts unversucht zu lassen, um Kretschmann von seinem Grußwort bei der Preisverleihung abzubringen. Frage an Kretschmann: „Galt das Cohn-Bendit, oder galt dem Versuch, den populären Ministerpräsidenten ins Zwielicht zu rücken?“ Kindesmissbrauch eines der letzten Tabus in einer libertären Gesellschaft, da bleibt schnell was hängen an dem, der sich damit gemein macht. Kretschmann antwortet: „Das galt mir, das ist ganz klar, jedenfalls von Seiten der Opposition.“ Und die lässt so schnell nicht locker. CDU-Fraktionschef Peter Hauk greift noch am Samstag die Recherchen des Journalisten Christian Füller auf, die nahe legen, dass ein Entlastungsbrief der Eltern nach der erstmaligen Diskussion der Vorwürfe im Jahr 2001 doch eher eine politische Rettungsaktion zu Gunsten Cohn-Bendits gewesen war.

"Jagt mich nicht für etwas, was ich nicht gemacht habe"

Der aber bleibt auch in seiner Dankrede dabei, dass den Worten niemals Taten vorangegangen waren: „Kritisiert mich bis zu meinem Tod für meine Äußerungen, aber jagt mich nicht für etwas, was ich nicht gemacht habe.“ Kretschmann, dem die Mühen des Amtes mitunter deutlich anzusehen sind, konnte zuletzt auf eine Reihe gelungener Auftritte zurückblicken. Standhaft verteidigte er im Nordschwarzwald das Projekt Nationalpark – und fand dafür überparteilich Anerkennung. Und auch sein Grußwort für Cohn-Bendit glückt. Beim Sex mit Kindern höre auch der Tabubruch auf, sagt er. Niemand sei vorzuwerfen, dass er sich über das aufrege, was Cohn-Bendit 1975 in seinem Buch „Der große Basar“ geschrieben und 1982 im französischen Fernsehen gesagt habe. Aber es sei eben durchaus ein „elementarer Unterschied, ob die Irrtümer realer Natur sind oder tatsächlich stattgefunden haben“.

Vergebung ist elementar in der Demokratie

Und wie so oft sucht Kretschmann auch diesmal Beistand bei seiner Hausphilosophin. Es sei das Verdienst von Hannah Arend, „dass sie das Verzeihen auf das politische Handeln heruntergebrochen" habe. Vergebung sei elementar in der Demokratie. „Das macht gerade ihre Stärke aus, weil sie die Chance biete, wieder neu anzufangen.“ Er selbst habe das erfahren nach seinen linksradikalen Verirrungen in der Studentenzeit. Dabei beziehe sich die Vergebung immer nur auf die Person, „nie auf die Sache“. Dies gelte im Übrigen auch für den Namensgeber des Theodor-Heuss-Preises, der als liberaler Abgeordneter Hitlers verhängnisvollem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hatte – und dennoch als erster Bundespräsident der jungen Nachkriegsrepublik, so Kretschmann, ein „Glücksfall“ gewesen sei.

Abseits des Schlachtenlärms um Cohn-Bendits pädophile Äußerungen bleibt aber noch die Frage zu klären, weshalb der inzwischen 68-Jährige überhaupt den Preis erhalten hat, und worin eigentlich die Wirkung dieses Mannes liegt. Jeder, der nicht mehr ganz jung ist, kennt Daniel Cohn-Bendit. Den Namen. Der Rest des Menschen aber ist diffus geblieben, was auch daran liegen mag, dass er auf der nationalen Bühne in Deutschland nie ein Amt bekleidete. Cohn-Bendit: Ist das nicht jener Lockenkopf – Dany le Rouge – , der 1968 die Pariser Studenten auf die Barrikaden getrieben hatte?

Cohn-Bendit hat viele einer Generation fasziniert

Ja, das ist er. Diese Zeit begründete den Mythos Cohn-Bendit. Fragt man Rezzo Schlauch, den alten Fahrensmann der Grünen und zu Zeiten der Studentenunruhen Mitglied der Freiburger Burschenschaft Saxo-Silesia, so fällt diesem die Geschichte ein, wie er mit einigen Verbindungsbrüdern in einem alten Käfer nach Paris fuhr. Staunend standen die wackeren Krisentouristen vor der Sorbonne, in deren Umkreis die Polizei jede Kreuzung besetzt hielt. Sie betrachteten die rote und die schwarze Fahne auf dem Universitätsgebäude und fragten sich: Rot ist die Revolution, aber was bedeutet das Schwarz? Die Symbole der Anarchisten waren den biederen Jungs aus dem deutschen Südwesten durchaus fremd. „Das war eine ganz andere Dimension als bei uns“, erzählt Schlauch, noch im Rückblick verzückt.

Aus dieser ganz anderen Dimension kam Cohn-Bendit. Im Mai 1968 wurde er, der 1945 als Sohn eines jüdischer Emigranten und einer französischen Mutter in Montauban im Departement Tarn-et-Garonne geboren worden war, von der Regierung aus Frankreich ausgewiesen. Er strandete in Frankfurt. Und auf den Straßen von Paris skandierten zehntausende empörte Studenten: „Wir sind alle ein deutscher Jude.“ Cohn-Bendit habe viele in seiner Generation von Anfang an fasziniert, sagt Schlauch. Weil er undogmatisch gewesen sei und nicht stets den zeittypischen Theorieapparat mit sich herumschleppte. Weil er „die Dinge fühlbar“ gemacht habe.

"Er ist von Europa besessen"

Reinhard Bütikofer, heute Vorsitzender des Dachverbands der europäischen Grünen, sagt: „Cohn-Bendit war eine historische Figur, lang bevor er ins Europaparlament kam. Mit ihm verbindet sich eine Generationenerfahrung.“ Paris und Straßburg. Dazwischen lagen die Jahre in der Frankfurter Spontis-Szene. Joschka Fischer tauchte damals am Straßenrand von Cohn-Bendits Leben auf. 1984 trat er den Grünen bei, orientierte sich an deren realpolitischen Flügel. 1989 machte ihn der Frankfurter Oberbürgermeister Volker Hauff zum Dezernenten für multikulturelle Angelegenheiten. 1994 zog er, inzwischen zum „Dany le Vert“ gewandelt, ins Europaparlament ein, für das er in der Folge abwechselnd in Deutschland und Frankreich kandidierte. „Er ist wie kaum ein anderer in zwei politischen Kulturen zuhause“, sagt Bütikofer. Und Rezzo Schlauch beschreibt die Wirkung des Europapolitikers Cohn-Bendit mit den Worten, er kenne kaum jemand, der so plastisch und überzeugend die Idee Europas mit Leben zu füllen vermöge. „Er ist beseelt, um nicht zu sagen, er ist von Europa besessen.“ Das ist in Zeiten des Zerfalls Europas vielleicht nicht das Schlechteste, was man über einen Preisträger sagen kann.