Wissenschaftsministerin Theresia Bauer streitet mit dem Philosophen Julian Nida-Rümelin über „Akademisierungswahn“ und den Stellenwert der beruflichen Bildung. Bauer hält die Thesen des Professors für Angstmacherei.

Stuttgart - Julian Nida-Rümelin findet, es gehöre Mut dazu, sich mit ihm auf ein Streitgespräch einzulassen. Denselben bescheinigte er jedenfalls der baden-württembergischen Wissenschaftsministerin Theresia Bauer nach eineinhalbstündigem Streitgespräch. Bauer hatte den Philosophieprofessor aus München eingeladen, um seine Thesen zum „Akademisierungswahn“ zu durchleuchten - als „erste und einzige Landesministerin“, wie Nida-Rümelin konstatierte.

 

Der Ex-Kulturstaatsminister aus der ersten Regierung Schröder warnt seit dem Erscheinen seines Buches „Der Akademisierungwahn“ regelmäßig davor, dass zu viele junge Leute an die Universitäten drängten und die duale Ausbildung in Deutschland Gefahr laufe, abgewertet zu werden. Er macht im Land eine regelrechte Ideologie aus, die den Bürgern das Gefühl vermittle, „man ist nicht ganz Mensch ohne Studium“. Der Mittelstand, so Nida-Rümelin, sei der Überzeugung, wenn das Kind nicht studiert, droht der soziale Abstieg.

Professor warnt vor Irrglauben

Von Streitgespräch ist zunächst nicht viel zu bemerken. Der Professor doziert, zieht Statistiken und Bedarfsrechnungen heran, zum Beweis, dass in 15 Jahren deutlich mehr dual gebildete Fachkräfte fehlen werden als Akademiker. Er warnt vor dem „Irrglauben“, Akademiker würden deutlich mehr verdienen als Techniker und hält gar nichts davon, etwa Großbritannien bei der Studierquote nachzueifern, man denke nur an die Jugendarbeitslosigkeit der Briten. Wenn alles an die Uni drängt, bleibt für die berufliche Bildung nur der Rest und diejenigen, die im Studium scheitern – und das wäre, so der Philosoph, das Ende für die mittelständisch geprägte Wirtschaft.

Nida-Rümelin holt weit aus, spricht über Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Ausbildung, über Wertschätzung und Respekt. Theresia Bauer zweifelt und sucht den Diskurs. „Sie bedienen ganz alte Ängste“, wirft sie dem selbstbewussten Rhetoriker vor. Die grüne Ministerin stört sich schon an dessen Begrifflichkeit. „Akademisierungswahn“ und „Bildungskatastrophe“ vermitteln für sie eine Dramatik, die nicht nachvollziehbar sei. Bei der Entwicklung der Studierendenzahlen überzeichne der Buchautor „bis zur Verzerrung“.

Ministerin sieht keine Dramatik

Die Wissenschaftsministerin kann für Baden-Württemberg keine auffällige Entwicklung erkennen. Nida-Rümelin kritisiert, dass die Studierendenzahlen im Land von 2005 bis 2010 um 13 Prozent auf 52 Prozent gestiegen sind. Bauer erklärt den Zuwachs mit den doppelten Abiturjahrgängen und vor allem damit, dass seit 2009 die Studenten der Dualen Hochschule Baden-Württemberg als Studenten geführt werden, vorher fielen sie unter die berufliche Ausbildung.

Schon die Definition des Studiums fällt bei den Diskutanten recht unterschiedlich aus. „Die Expansion der Universitäten war ein Fehler“, moniert Nida-Rümelin und lässt anklingen, dass ein „richtiges“ Studium an der Universität stattfindet. Gegen Fachhochschulen und die Duale Hochschule hat er wenig vorzubringen.

Die aktive Politikerin fragt, was die Politik „aus den düsteren Prognosen“ des Expolitikers lernen soll. Sollen Studienplätze abgebaut, noch mehr Zugangsbeschränkungen eingeführt werden? Nicht dem Akademisierungswahn verfallen, nicht den Eindruck vermitteln, ein Studium sei das normale, antwortet Nida-Rümelin. Eine Gymnasiallehrerin aus dem Publikum pflichtet ihm bei. Nicht aus freien Stücken, wie es die Ministerin möchte, sondern aus Angst würden die Eltern sich eine akademische Bildung für ihre Kinder wünschen, sagt die Lehrerin. Sie fordert die Politik auf, den gesellschaftlichen Druck zu beeinflussen.

Einig über bessere Allgemeinbildung

Es gibt auch Punkte, in denen sich Bauer und Nida-Rümelin annähern. Bessere Allgemeinbildung auch in der beruflichen Bildung, mehr Sprachkenntnisse für die globalisierte Welt, darüber herrscht Einigkeit. Auch darin, dass akademische und berufliche Bildung nicht gegeneinander ausgespielt werden sollen und die Durchlässigkeit zwischen den Systemen gestärkt werden soll.

Bauer will prüfen, ob Studienabbrecher sich Kenntnisse für die berufliche Ausbildung anrechnen lassen können, andererseits öffnen sich die Hochschulen langsam für Fachkräfte ohne Abitur und Fachhochschulreife. Der Weg der Annäherung scheint lang. Claus Munkwitz, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Region Stuttgart, hofft, dass die Beiträge Nida-Rümelins das System öffnen: „Auch die Gymnasiallehrer sollen verstehen, dass der duale Bildungsweg seine Wertigkeit hat“. Bisher, sagt Nida-Rümelin, sehe das Gymnasium nur die akademische Bildung: „Alles andere wird neun Jahre lang komplett ausgeblendet“.