Reportage: Frank Buchmeier (buc)
Herr Borgmann, Sie waren für Kommunalpolitik zuständig. Das ist ein Bereich, für den sich Menschen unter 40 Jahren kaum noch interessieren. Wie soll die Stuttgarter Zeitung auf solche gesellschaftlichen Entwicklungen reagieren?
Borgmann Eine Qualitätszeitung hat die Aufgabe, das politische Geschehen umfassend abzubilden. Die Erfolge der „Zeit“ und der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ zeigen, dass die Leser eine analysierende Berichterstattung zu schätzen wissen. Bei der StZ stand die Information immer an der ersten Stelle, dann kam die Bildung und schließlich die Unterhaltung. Diese Hierarchie muss bleiben. Wenn wir uns aufs Seichte verlagern, schaufeln wir uns das eigene Grab. Leider beobachte ich eine schleichende Entpolitisierung.
Plavec Die Kernfrage ist: Wie können wir unsere traditionellen Leser zufriedenstellen und ein neues, jüngeres Publikum hinzugewinnen? Dabei helfen uns die digitalen Kanäle. Unsere Wahl-O-Maten zur OB-Wahl und zur Kommunalwahl, wo jeder durch ein paar Klicks auf der StZ-Website herausfinden konnte, welcher Kandidat oder welche Partei seine Ansichten am ehesten repräsentiert, wurden beispielsweise extrem gut genutzt. Das beweist, dass es durchaus möglich ist, lokale Politik für junge Menschen interessant zu machen.
Früher gab es vor einer Kommunalwahl keinen Wahl-O-Maten, sondern Kommentare von Herrn Borgmann.
Borgmann Es wurde insgesamt viel mehr kommentiert als heute. Man muss als Journalist den Mumm besitzen, eine klare Meinung zu vertreten – auch auf die Gefahr hin, dass man mit dieser mal danebenliegt.
Vielleicht kamen die Leser einst besser damit klar, wenn ein bestimmter Autor für eine bestimmte Haltung steht.
Plavec „Haltung“ ist ein Begriff, den Journalisten jenseits der 45 gerne verwenden. Ich habe den Eindruck, dass die älteren Kollegen damit beschönigen wollen, dass man aus ihren Artikeln leicht herauslesen kann, welche politische Ansicht sie persönlich vertreten.
Borgmann Das wäre Gesinnungsjournalismus, und der ist verwerflich. Unter Haltung verstehe ich etwas anderes: Früher wurde die Blattlinie im Leitartikel dargestellt. Unsere Worte hatten Gewicht. Ich behaupte, dass Stuttgart und die Nachbarkreise beispielsweise kein gemeinsames Regionalparlament bekommen hätten, wenn die StZ die Gründung nicht befürwortet hätte.
Plavec Das ist ja schrecklich.
Borgmann Warum denn?
Plavec Weil sich Journalisten nicht mit einer Sache gemein machen dürfen. Wir müssen unabhängig sein.
Borgmann Es gibt durchaus Ziele, die man uneingeschränkt unterstützen kann. In meinem Arbeitsvertrag stand, dass ich mich als StZ-Redakteur für die europäische Einigung und soziale Gerechtigkeit einzusetzen habe. Das würde ich jederzeit wieder unterschreiben. Aber keine Sorge, junger Kollege: der Einfluss von Zeitungen ist eh am Schwinden.
Sie haben sich zwei Jahre vor dem offiziellen Rentenalter aus der StZ-Redaktion verabschiedet. Hat Ihnen Ihr Job keinen Spaß mehr gemacht?
Borgmann Ich bin ja noch immer als Journalist tätig, nunmehr freiberuflich. Letztendlich führte Stuttgart 21 dazu, dass ich dem Tagesgeschäft entflohen bin. Dieses Projekt hat nicht nur die ganze Stadt gespalten, sondern auch unsere Redaktion. Es führte zu einer Verrohung der Sitten. Wir sind alle Opfer von Stuttgart 21 geworden, egal ob wir dafür oder dagegen sind. Meine Frau hat mich eines Morgens gefragt: „Warum tust du dir die persönlichen Anfeindungen noch an?“ Ich konnte es mir glücklicherweise leisten, ihrem Rat zu folgen.